26. Januar 2017

Lehren aus der Berner Zeugnisposse

Ein beeindruckender Erziehungsdirektor, eine blossgestellte Expertengruppe. 

Als Erziehungsdirektor Bernhard Pulver in der vergangenen Woche die endgültige Version der neuen Berner Schulzeugnisse präsentierte, dürfte manchen Leuten ein Stein vom Herzen gefallen sein. Andere wiederum mussten eine bittere Pille schlucken. Der «Bund» erinnerte: «Der Aufruhr war gross, als das Dokument vor rund einem Jahr an die Öffentlichkeit gelangte.»
Pulver kann über seinen Schatten springen, Bild: Grüne Kanton Bern
Die Lehren aus der Beurteilungsdiskussion im Kanton Bern, Bund, 26.1. von Alain Pichard


Was war damals passiert? Nachdem eine Expertengruppe ein Jahr lang daran gearbeitet hatte, präsentierte am 17.2.16 ein gut gelaunter Erziehungsdirektor in einem Hearing vor rund 250 Personen deren Vorschläge. Diese wurden im Eiltempo durchgenommen, es gab lockere Sprüche und einige Konsultativabstimmungen, die allesamt positiv verliefen, und am Schluss einen grossen Applaus und ein feines Buffet.

Zwei der Teilnehmer kenne ich gut. Eine ist eine Kollegin aus unserem Schulhaus in Orpund, der andere der junge Lars Burgunder, Klassenlehrer im Raum Bern. Unsere bedauernswerte Kollegin, die von den Vorschlägen angetan war, musste sich von uns einiges an Kritik anhören. Am Schluss meinte Sie: «Es ging alles so schnell, ich war mir der Brisanz überhaupt nicht bewusst!»

Lars hingegen traute seinen Ohren nicht, als er vernahm, dass man künftig im Schulzeugnis Charaktereigenschaften der Kinder bewerten solle. Er fand es inakzeptabel, dass man Punkte wie Pünktlichkeit, Höflichkeit und Umgangsformen, Ordnungssinn oder «Umgang mit Vielfalt» beurteilen sollte, und das auf einer Skala von 1 bis 10. Am schlimmsten empfand er den Satz: «Schülerinnen und Schüler können ihre Gefühle situationsgemäss ausdrücken.» Er schickte die Berichte an den Schulblog «Schule Schweiz» und von dort gelangte die Angelegenheit an die Öffentlichkeit.

Und jetzt aufgepasst! Ein etwas zerknirschter Bildungsdirektor gab sich nicht mal eine Woche später selbstkritisch und empfand seine eigenen Papiere als «unausgegoren». Interessant: Da entwickeln Experten ein Jahr lang ein neues Beurteilungssystem, da diskutieren Leute, die den Herausforderungen des Unterrichts stets fernbleiben, intensiv über die Ergebnisse, da werden 250 Praktiker zu einer Anhörung eingeladen und dann kommt ein kleiner kritischer Zeitungsartikel und «schwups», der verbale Rückzug, das «Sorry», das «Es war ja nicht so gemeint».

In der Vernehmlassung im Juni 2016 waren von den kritisierten Punkten nur noch wenige übrig. Und nun, am 17. Januar 2017, präsentierte unser Erziehungsdirektor das definitive Dokument, und es zeigt sich: Er hat weitere umstrittene Formulierungen aus der Vorlage gestrichen.

Was können wir aus diesem Vorfall lernen?

1. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass der amtierende Erziehungsdirektor die beeindruckende Fähigkeit besitzt, den Menschen zuzuhören. Und er kann über seinen Schatten springen, Meinungen revidieren und – das ist das Besondere an diesem Mann – sich dann auch gegenüber seinen eigenen Leuten in der Bildungsverwaltung durchsetzen.

2. Hearings ersetzen keine Vernehmlassungen.

3. Bildungsexperten sind nicht zwangsläufig die besseren Bildungsreformer. Es waren die Stellungnahmen der Oberstufenzentren in Biel und Orpund, allesamt Praktiker, welche den Bildungsdirektor überzeugten. Die jetzige Variante entspricht ziemlich genau deren Forderungen.

4. Die definitive Version der neuen Zeugnisse kommt einer Blamage der Bildungsexperten gleich, die eine viel weitergehende Beurteilungspraxis forderten.


5. Angesichts dieser Tatsache tönt die Beschwörungsformel des Berufsverbands Bildung Bern, wonach das Volk nicht über Bildungsreformen abstimmen sondern man dies den Experten überlassen solle, ziemlich obsolet. Die Vertreter von Bildung Bern waren an der Ausarbeitung der ersten Version der neuen Zeugnisse dabei, waren nach dem Podium zufrieden, unterstützten diese Variante im Wirbelsturm der öffentlichen Kritik, waren mit der abgespeckten Variante im Juni aber auch zufrieden und sind mit der noch einmal gestrafften Endversion ebenso zufrieden. Wie sagte es der englische Dramatiker William Shakespeare einst? «Wer wohl zufrieden ist, ist wohl bezahlt.»

1 Kommentar:

  1. Schön zu Wissen, dass rebellieren eben doch manchmal etwas bringt, trotz der Obrigkeit am längeren Hebel

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