23. Januar 2017

Instrumentelle Vernunft reicht nicht

Der Gastkommentator Toni Stadler bewundert die vom Konfuzianismusgeprägten Bildungssysteme Ostasiens, die davon ausgehen, «dass das Universum,die Welt und der Mensch rational verstanden werden können». Einverstanden, doch zum rationalen Verstehen von Mensch und Welt gehört auch die Kenntnis der Grenzen des rational Verstehbaren. Jenseits dieser Grenzen beginnt das Reich der «Sinngebung», das Reich der Bewältigung der endlichen Existenz durch Phantasie und Chaos, durch Kunst, Kultur, Religion. Und diese «Sinngebung» ist in den Kategorien von Ranking und Ratio wohl kaum formulierbar. «Fleiss, Disziplin und Leistung», wie Stadler sie einfordert, mögen zwar wichtig sein, um in unserer Gesellschaft Karriere zu machen, doch für die Anforderungen eines gelungenen Lebens reichen sie nicht aus.
Gegen die Ökonomisierung von Bildung, NZZ, 23.1. Leserbrief von Willi Bühler


Stadler fordert eine «Beschränkung der Lehrpläne aller Stufen auf das Wesentliche und Anwendbare». Nein – das Wesentliche und das Anwendbare schliessen sich aus! Die instrumentelle Vernunft mag zwar wichtig sein für Strassen- und Kühlschrankbauer, aber doch nur im Kontext gesellschaftlich ausgehandelter Ziele. Oder möchte Toni Stadler in einer zweckrationalen Erziehungsdiktatur leben wie in Singapur? Stadler wünscht die «Fokussierung der Lehrpläne auf das Anwendbare und Finanzierbare», und er fordert einen «Numerus clausus für Geisteswissenschaften und gewisse Sozialwissenschaften». Nein! Das Zweckrationale mag wichtig sein für die Befriedigung unserer Grundbedürfnisse. Doch ein gelungenes Leben fängt erst an in der Beschäftigung mit alternativen Lebensentwürfen, mit Kunst, Musik, Literatur, ja, und auch mit dem von Stadler so geschmähten Angebot «schöngeistiger Fächer aus dem 19. Jahrhundert». Dass selbst eine in den Augen Stadlers so abgelegene Disziplin wie die Ägyptologie aus der Kenntnis längst untergegangener Kulturen zu luziden Zeitdiagnosen fähig ist, das zeigt beispielsweise das Werk des Kulturwissenschafters Jan Assmann.

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