29. Januar 2017

Biedermann wünscht sich engeren Bezug zwischen Aus- und Weiterbildung

Bringt es etwas, wenn Kinder im Google-Zeitalter noch alle Flüsse Afrikas auswendig lernen müssen? Welchen Sinn machen Hausaufgaben und was bringt das altersdurchmischte Lernen? Der Liechtensteiner Professor für empirische Erziehungswissenschaften und neuer Rektor der pädagogischen Hochschule St. Gallen, Horst Biedermann, gibt Antworten.
Biedermann: "Letztendlich kommt es auf die Menschen an, welche in dem System unterrichten, Bild: zvg
Horst Biedermann: "Hausaufgaben können tatsächlich überflüssig sein", Rheinzeitung, Februar 2017, von Doris Quaderer


«Volksblatt»: Kennen Sie den: Fragt der Chemielehrer: «Was ist flüssiger als Wasser?» Sagt Fritzchen: «Hausaufgaben! Die sind überflüssig.»

Horst Biedermann: Sehr schön (lacht). Womöglich hat Fritzchen sogar recht. Hausaufgaben können tatsächlich überflüssig sein. Es gibt verschiedene Studien zu dem Thema und die Forschung ist da recht widersprüchlich. Tendenziell geben die Studien Fritzchen sogar recht. Hausaufgaben erweisen sich in der Breite der Schüler nur dann als sinnvoll, wenn es darum geht, bereits vollzogene Lernprozesse zu vertiefen, also beispielsweise das Einmaleins oder Vokabeln zu üben. Schüler sollen die Hausaufgaben selbständig erledigen können. Das ist leider nicht immer der Fall. Dann sind Schüler, deren Eltern diese Hilfestellungen nicht leisten können, leider stark benachteiligt. Das ist ein grosses Problem. Wir dürfen die Verantwortung für Lernentwicklungen nicht ins Elternhaus delegieren.

Zum Thema Chancengleichheit gab es kürzlich eine Studie in Liechtenstein, welche zeigte, dass Kinder mit Migrationshintergrund bedeutend häufiger in die Oberschule eingeteilt werden. Wenn man einen Elternsprechtag am Gymnasium besucht, trifft man das komplette «Who is who?» des Landes. Werden beim Übertritt gewisse Kinder bereits abgehängt?

Ich würde das nicht nur am Übertritt festmachen. Ein grosses Problem ist, dass diese Kinder häufig bereits benachteiligt ins System eintreten. Wir wissen, dass Kinder in frühen Lebensjahren sehr unterschiedlich gefördert werden, wobei gerade Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien häufig benachteiligt werden. Die Kinder kommen dadurch bereits mit einem sehr unterschiedlich gefüllten Rucksack in die Schule. Wenn sie dann auch noch während der Schulzeit unterschiedliche ausserschulische Unterstützung erfahren, so wird die Schere sogar noch grösser. Und beim Übertritt pochen bildungsaffine Eltern eher auf einen höheren Schultyp als solche ohne höheren Schulabschluss. Das von Ihnen geschilderte Bild des Elternsprechtags am Gymnasium stellt in diesem Sinne das Ergebnis eines mehrdimensionalen Prozesses und nicht eines einzelnen Ereignisses dar.

Sie haben vorhin gesagt, Lernprozesse dürften nicht nach Hause delegiert werden. Auf der anderen Seite hört man oft von Lehrern, die bemängeln, dass vielen Kindern Anstand, Disziplin und Respekt fehle und sie diese in der Schule zuerst einmal um- und nacherziehen müssten.

Die Schule sollte meiner Meinung nach die Bildungsverantwortung haben, und die Erziehungsverantwortung gehört ins Elternhaus. Da kann sich das Elternhaus nicht aus der Verantwortung stehlen. Aber die Bildungsprozesse sollten Eltern den Lehrpersonen überlassen können, denn sie verfügen über die dafür notwendige Expertise. Natürlich haben Lehrpersonen auch gewisse erzieherische Aufgaben, sie müssen Strukturen schaffen und Regeln durchsetzen, damit die Schüler überhaupt lernen können. Zudem gehört es zum Auftrag einer gesellschaftlich beauftragten Bildungsinstitution, dass die kulturleitenden Normen und Werte vermittelt und im gemeinsamen Umgang gelebt werden. Aber Erziehung, die darüber hinausgeht, die stellt Aufgabe des Elternhauses dar.

Denken Sie, dass es da Defizite gibt? Sind die Kinder schwieriger geworden?

Ich glaube nicht, dass die Kinder schwieriger geworden sind. Was sich gewandelt hat, ist das gemeinschaftliche Commitment zur Institution Schule – was gelegentlich auch mit geringerem gesellschaftlichen Ansehen des Lehrberufs zum Ausdruck gebracht wird. Hier geht es mir auch um die Unterstützung der Lehrperson durch das Elternhaus. Die Lehrer sind oftmals in der Situation, dass ihnen der Rückhalt für disziplinarische bzw. allgemein erzieherische Massnahmen fehlt. Wenn es früher vom Lehrer «Tatzen» in der Schule gegeben hat, so setzte sich diese Massregelung zu Hause nicht selten mit einer weiteren Massnahme fort. Zu begrüssen ist selbstverständlich, dass physische und psychische Gewalthandlungen in der heutigen Schule nichts mehr verloren haben. Weniger positiv sehe ich jedoch, dass Eltern heute Lehrpersonen bei deren Massregelungen eher kritisch als unterstützend entgegentreten.

Ein Punkt, welcher das Unterrichten auch anspruchsvoller gemacht hat, ist, dass die Kinder stärker in ihren Unterschiedlichkeiten wahrgenommen werden. Dieses Abrücken von einer «Gleichmacherei» in der Schule (alle machen zeitgleich und in demselben Tempo dasselbe) bedingt, dass der Unterricht anders gestaltet werden muss, was hohe Anforderungen an die Lehrpersonen stellt.

Verschiedene Primarschulen in Liechtenstein haben in den letzten Jahren umgestellt auf das sogenannte altersdurchmischte Lernen. So werden beispielsweise an der Primarschule Schaan, Kindergärtler und Erstklässler gemeinsam unterrichtet, die zweiten und dritten Klassen wurden zur Mittelstufe und die vierten und fünften Klassen zur Oberstufe zusammengefasst. So nimmt die Heterogenität der Klassen noch weiter zu. Ist das gut?

Die Unterschiedlichkeit der Kinder ist so oder so gegeben. Nicht alle Kinder in einem Jahrgang sind auf dem gleichen Entwicklungsstand, da gibt es eine enorme Bandbreite. Die neuen Lehr-/Lernformen zielen viel stärker darauf ab, die Kinder in ihren individuellen Prozessen zu begleiten. Wir kommen dadurch immer stärker weg vom Frontalunterricht. Wir versuchen, über andere Methoden den einzelnen Kindern in ihren Entwicklungstempi gerecht zu werden. Sei dies über Arten von Projektunterricht oder beispielsweise über das sogenannte «peer tutoring», also, dass sich Kinder gegenseitig unterstützen oder dass sie sich unterstützt durch verschiedene Hilfsmittel selber Inhalte erarbeiten. Ich denke, dass die erwähnten neuen bzw. wiederentdeckten Strukturen für Lehrpersonen, welche Unterrichtsarrangements nach neuen Erkenntnissen realisieren können, keine Schwierigkeiten darstellen, sondern vielmehr zusätzliche Möglichkeiten eröffnen.

Aber funktionieren diese Methoden dann auch? Kann es nicht sein, dass Kinder bequem sind und sich so in der Schule einen «Lenz» machen und den Anschluss verpassen? Spätestens beim Übertritt ist dann ja Schluss mit lustig.

Nein, das glaube ich nicht. Dieser Ansatz setzt darauf an, dass Kinder jeweils dort abgeholt werden, wo sie stehen. Und wenn den Schülern zudem tatsächlich in ihren Stärken Freiräume geboten werden, so werden sie diese gerne und motiviert annehmen. Letztendlich ist diese stärkere Individualisierung des Unterrichts eine riesige Chance, die Kinder dort zu stärken, wo sie stark sind. Das muss auch das Ziel sein – es geht nicht darum, immer auf die Schwächen zu schauen. Denn jedes Kind hat Stärken und aus denen zieht es die Motivation. Diese Motivation stellt dann auch Motor für die Anstrengungen in den weniger beliebten Bereichen dar. Denn selbstverständlich sollen auch dort die Lernziele erreicht werden. Diesbezüglich spricht man von «Regelstandards», welche erreicht werden müssen, um eine nächste Stufe der Lernentwicklung angehen zu können.

Ein Problem am Schulsystem ist jedoch, dass es ein Sprachgenie mit einer Mathe-Schwäche oder ein Mathe-Genie mit Legasthenie nicht ans Gymnasium schaffen wird. Viele Jugendliche können ihren Traumberuf nicht ausüben, weil sie an einzelnen Schulfächern scheitern. Müsste man hier nicht flexibler werden?

Hier würde ich mir auch wünschen, dass das Bildungssystem etwas flexibler wird. Warum soll man eine Schwäche nicht durch andere herausragende Stärken kompensieren können? Unser erfolgreiches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem funktioniert ja auch nur deshalb so gut, weil wir auf die Stärken der einzelnen Menschen setzen können. Wie bereits erwähnt, sollte es das Ziel der Schule sein, dass jeder Schüler durch seine Stärken zum «Fliegen» gebracht wird. Dann wird es auch einfacher fallen, sich mit den eigenen Schwächen auseinander zu setzen.

Wie gehen die Lehrpersonen mit diesen Entwicklungen in der Bildungslandschaft um? Es gibt ja Lehrpersonen, die schon jahrelang ihren Beruf ausüben. Können die so einfach auf diese neueren Lernformen umstellen?

Da sehe ich durchaus ein Problem. Die stärkere Fokussierung auf die einzelnen Schüler verlangt gänzlich neue Unterrichtsgestaltungen, worauf Lehrpersonen auch vorbereitet werden müssen. Da dies dynamische Prozesse darstellen, würde ich mir wünschen, dass die Aus- und Weiterbildung in engerer Beziehung stehen, dass also auch die Weiterbildung ein Stück weit institutionalisiert wird. Selbstverständlich gibt es Lehrpersonen, die sich in eigener Verantwortung à jour halten. Aber es gibt auch solche, die sich dem zu wenig widmen.

Sie sind Direktor einer pädagogischen Hochschule, Sie haben zuvor die Qualität der Lehrerbildung in der Schweiz und in Europa untersucht und verglichen. Wie gut steht die Schweiz diesbezüglich da? Sind unsere Lehrer gut ausgebildet?

Ja, die Lehrerbildung in der Schweiz ist auf gutem Niveau. Wir haben sehr motivierte junge Menschen, die zu uns an die Hochschule kommen. Natürlich gibt es einzelne, welche sich weniger gut für den Lehrerberuf eignen. Erhärtet sich dieses Bild über die erste Phase der Ausbildung, dann trennen wir uns von diesen Personen. Trotz des grundlegend positiven Bildes gibt es aber auch gewisse Baustellen. Eines der grossen Probleme ist für mich wie gesagt die fehlende Kopplung der Ausbildung an Weiterbildung. Die Forschung konnte uns aufzeigen, dass im Lehrberuf die Expertiseentwicklung nicht automatisch stattfindet – das heisst, mit mehr Erfahrung werde ich nicht gleich zum Experten. Dazu werden professionsbezogene Weiterbildungsprozesse benötigt. Auch ein Problem ist, dass wir in der dreijährigen Primarlehrerausbildung Generalisten ausbilden. Also, Lehrpersonen, welche alle Fächer unterrichten können müssen. Hier fehlen deutlich Zeitgefässe oder aber man müsste sich über die Vielzahl an Fächern Gedanken machen. Zudem sehe ich es als schwierig an, dass Lehrpersonen noch zu wenig gut auf die eigene professionelle Weiterentwicklung vorbereitet werden – wozu ein stärkerer Forschungsbezug gehören würde. Es gibt also Herausforderungen, aber im internationalen Vergleich ist die Lehrerbildung in der Schweiz dennoch im Spitzenfeld.

Seit einigen Jahren gibt es ja keine Ausbildung mehr für Kindergärtnerinnen – wer auf dieser Stufe unterrichten will, braucht auch die Matura und ein Studium. Ist das sinnvoll?

Ja, meiner Meinung nach braucht es gerade auch in der Unterstufe eine fundiert wissenschaftliche Ausbildung. Im frühkindlichen Bereich brauchen die Lehrpersonen grosses Know-how in der Entwicklungspsychologie oder auch in der Früherkennung unterschiedlicher kognitiver und affektiv-sozialer Defizite. Die Ansprüche sind hoch, damit Fehlentwicklungen früh erkannt und zielgerichtet angegangen werden können.

Aber spielt nicht gerade auf der Kindergartenstufe die emotionale Bindung eine sehr grosse Rolle und auch die Kreativität. Es gibt viele junge Leute, die auf diesen Ebenen stark sind, aber die Mathe-Matura nicht schaffen.

Ja, der Lehrberuf ist in erster Linie ein Beziehungsberuf, weshalb ich fundierte Ausbildung und Beziehungsfähigkeit auch nie ausschliesse, sondern nur zusammen denke. Deshalb bin ich auch ein Verfechter von Klassenlehrpersonen. Gerade im Bereich der frühen bzw. vorschulischen Bildung kann ich mir sehr gut vorstellen und würde ich mir wünschen, dass Teams mit Expertinnen und Experten aus den Bereichen der Sozialpädagogik und den Bildungswissenschaften zusammengestellt werden, die möglichst auch gemeinsam mit den Kindern arbeiten.

Findet man genügend qualifizierten Nachwuchs? Einerseits klagen viele Eltern und Schüler, dass der Druck an den Schulen extrem hoch sei und auf der andern Seite hört man Hochschulen und Lehrlingsausbildner, die jammern, es gebe keine guten jungen Leute mehr.

Die jungen Menschen heutzutage können enorm viel. Was vielleicht gewissen Personen auffällt, ist, dass sich gewisse Verschiebungen in den Fähigkeiten ergeben haben. Wenn ich mir unsere jungen Studierenden ansehe, dann stelle ich fest, dass sie beispielsweise viel sicherer in ihrem Auftritt sind und auch besser präsentieren können als wir früher. Dafür sind einige von ihnen im Rechtschreiben schwächer. Wir mussten an unserer Hochschule wieder Rechtschreibtests einführen und bieten diesbezüglich auch Stützkurse an. Also es hat durchaus eine Verschiebung der Fähigkeiten gegeben.

Es haben sich auch die Anforderungen an die jungen Menschen und das Umfeld geändert. Ist es im Google-Zeitalter tatsächlich noch sinnvoll, alle Flüsse Afrikas auswendig zu lernen?

Ja und nein – Gegenfrage: Ist es sinnvoll, die Dinosaurier in der Primarschule zu behandeln und auswendig zu lernen? Ja, weil fast alle Kinder das lieben und man dadurch das Gehirn schulen kann, und nein, da es keinen Bezug zum zukünftigen Leben beinhaltet. So ähnlich sehe ich es mit den Flüssen Afrikas. Das Problem liegt darin, dass wir das Curriculum noch immer zu wenig den Interessen und Problemstellungen der jungen Menschen angepasst haben. Junge Menschen sind z. B. enorm an Themen im Lebensumfeld interessiert – zum Beispiel an Umweltthemen, an Gemeinschaftsprozessen, sie sind auch interessiert an vielen politischen Themen – aber weniger an den klassischen politischen Strukturen. Auch die globalen Prozesse, gerade auch mit Fokus auf die Digitalisierung, interessieren sie. Das sind alles Themen, die man aufgreifen könnte und anhand denen man auch wichtige Kulturtechniken erwerben und vertiefen könnte. In Finnland wurde beispielsweise beschlossen, dass auf der Sekundarstufe die Fächer abgeschafft und dafür Problemstellungen bearbeitet werden sollen. Auch wenn dieser Schritt nicht nur neu ist – man denke z. B. an den Projektunterricht –, in der eingeschlagenen Konsequenz ist er dennoch innovativ.

Also, dass man sich beispielsweise mit fossilen Brennstoffen beschäftigt und dann dieses Thema von Seiten der Biologie, Chemie, Geografie, Mathe, Sprachen und so weiter vernetzt aufgreift?

Genau, das ist die Idee dahinter. Ich habe das Gefühl, dass wir dadurch die jungen Menschen besser abholen könnten.

Lässt das unser Lehrplan zu?

Begrenzt. Es gibt Projektarbeiten, da ist es möglich so zu arbeiten. Ein Beispiel ist die Wirtschaftswoche am Gymnasium, welche ich aber nur aus den Medien kenne. Aber im täglichen Unterricht ist dies mit dem heutigen Lehrplan schwierig möglich.

In der Schweiz ist die Einführung des Lehrplans 21 ein grosses Thema. Liechtenstein will dort mitziehen. Gäbe es im Zuge dessen Verbesserungen in diese Richtung?

Auch der Lehrplan 21 ist grundsätzlich an Fächern orientiert, weshalb auf dieser Ebene nicht die grosse Innovationskraft zu sehen ist. Klar bietet er auch ein Stück weit Raum für Projektarbeiten. Der grosse Vorteil des Lehrplans 21 ist jedoch, dass man es geschafft hat, die kantonalen Unterschiede aufzulösen. Ausserdem mussten für die Erarbeitung dieses Lehrplans die Lehrpersonen zusammensitzen und neue Wege suchen. Daraus entstanden spannende Diskussionen, gerade was die neu konsequentere Kompetenzorientierung im Unterricht betrifft. Das war sicher wertvoll. Aber ansonsten wird sich dadurch die Schule nicht grossartig ändern.

Ein Thema, welches im Lehrplan 21 stärker Beachtung finden wird, ist der Bereich Informatik. Wenn man mit Start-up-Gründern redet, dann sagen die, dass Kinder unbedingt programmieren lernen sollten – programmieren sollte sein, wie eine Fremdsprache. Verschlafen wir da was?

Ja, ich glaube auch, dass man Informatik bzw. grundlegend Information- und Kommunikationstechnologien stärker in den Lehrplan einbeziehen müsste. Einerseits geht es mir dabei darum, dass sich Kinder in frühem Alter einen kompetenten und verantwortungsvollen Umgang mit neuen Technologien aneignen. Im Bereich des Handlings stellen sich diesbezüglich für viele Kinder keine Probleme, im Bereich der Verantwortung und Ethik aber sehr wohl. Andererseits stellt die Ebene des Programmierens nicht nur eine zusätzliche Sprache dar, sondern sie beinhaltet auch eine spezifische Art des Denkens. Diese Art des Denkens sollte in der Schule auch geschult werden.

In Ruggell gibt es ja beispielsweise iPad-Klassen – alle Erstklässler bekommen dort ein iPad, welches sie dann durch die Schulzeit begleitet. Ist das der Weg?

Es kommt darauf an. Wenn nur Geräte verteilt würden, so hätte dies noch wenig mit wirksamer Digitalisierung von Schule und Unterricht zu tun. Entscheidend ist, dass Lehrpersonen digitale Medien wirksam in ihre Lehr-Lernarrangements integrieren, also die methodisch-didaktischen Konzepte hinter solchen iPad-Klassen. Auch wenn ich selbst überzeugt bin, dass diesbezüglich gute Konzepte Lernprozesse nachhaltig beeinflussen können und sich diesbezüglich auch erste empirische Ergebnisse zeigen, so fallen die Forschungsergebnisse dennoch immer dünn und uneinheitlich aus. Tendenziell aber zeigt sich, dass solche Geräte als Werkzeug in Erarbeitungsphasen oder im Bereich des Übens von Nutzen sein können, wo hingegen sie bei der Lösung von komplexen Problemstellungen eher hemmend wirken.

Es gibt ja bereits papierlose Schulen, beispielsweise in skandinavischen Ländern, in welchen nur noch mit solchen Geräten gearbeitet wird. Was halten Sie davon?

Ich habe in Dänemark solche Klassen besucht, wobei mich das nicht nur überzeugt hat. Studien zeigen auch, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen dadurch noch stärker Probleme bekommen können. Es gibt auch Kinder, welche stark über die Motorik ihre Hirnhälften aktivieren, wobei Schreibprozesse eine wichtige Funktion einnehmen. Würde z. B. nur noch mit Touchscreen gearbeitet, so könnten diese grosse Mühe mit der kognitiven Aktivierung, Verarbeitung und Speicherung haben. Die Lösung sehe ich eher in der sinnvollen Kombination als in der Ablösung der Arbeit mit Papier. Mein Sohn ist im Sommer in Bayern eingeschult worden. Da wird noch eine Art Schiefertafel als Werkzeug zur Übung der Schrift verteilt, fast wie vor 200 Jahren (lacht). Ich glaube nicht, dass das nur ein Nachteil ist. Letztendlich ist das pädagogische Konzept dahinter ausschlaggebend.

Wir haben jetzt verschiedene Trends im Bildungswesen angesprochen. Für die Politik ist es ja noch schwierig zu entscheiden, auf welchen Zug man da aufspringen will. Wenn Sie Bildungsminister wären, was würden Sie ändern?

Das ist eine grosse Frage (lacht). Was die Forschung zeigt, ist, dass das Bildungssystem an sich wenig Wirkung hat. Viel entscheidender ist, was die verantwortlichen Personen aus den jeweiligen Gegebenheiten machen. Die ursprünglich grosse Initiative hinter dem Pisa-Projekt war ja, dass man sehen wollte, welches Schulsystem am besten funktioniert. In dieser Perspektive kann man das Projekt als gescheitert betrachten – die «olympischen» Länderranglisten zeigen sich nicht entlang von Schulsystemen. In jedem System gibt es erfolgreiche Klassen und weniger erfolgreiche. Es bringt also wenig, einzig von oben herab ein Schulsystem zu diktieren und dann darauf zu setzen, dass auf allen Ebenen Optimierungen eintreten. Letztendlich kommt es auf die Menschen an, welche in dem System unterrichten. In diesem Sinne wäre es mir wichtig, den verantwortlichen Menschen mehr Autonomie zu übertragen. Dazu gehört, dass verstärkte Autonomie den Schulen übertragen wird. Hier sollten noch stärker eigene Profile wachsen können, entlang der identifizierten Ressourcen und Stärken. Lehrerteams sind motivierter, wenn sie ihr eigenes pädagogisches Konzept erarbeiten und umsetzen können, worin ein Grundelement erfolgreicher Schulen liegt. Letztendlich steht und fällt vieles mit der Motivation der Lehrpersonen. Wie gesagt, ob sich dann eine Schule für Schiefertafeln oder iPads als Werkzeug entscheidet, ist zweitrangig. Mit dieser Verantwortung verbindet sich aber auch, dass Verantwortungen für eigene Weiterentwicklungen vollzogen werden. Ein damit einhergehendes Kontrollsystem würde dann auf einem doch stärker wissenschaftlich basierenden Evaluations- und Entwicklungssystem aufbauen.

Ist das nicht ein bisschen «Laissezfaire»-Politik?


Nein, die Politik setzt die gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Lehrplan gibt die zentralen von allen einzuhaltenden Zielsetzungen vor. Nur, wie diese Ziele erreicht werden, das sollte den jeweiligen Personen an den Schulen freigehalten werden – dafür sind sie ja die Expertinnen und Experten, deren Ressourcen es sinnvollerweise optimal zu nutzen gilt.

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