Bringt
es etwas, wenn Kinder im Google-Zeitalter noch alle Flüsse Afrikas auswendig
lernen müssen? Welchen Sinn machen Hausaufgaben und was bringt das
altersdurchmischte Lernen? Der Liechtensteiner Professor für empirische
Erziehungswissenschaften und neuer Rektor der pädagogischen Hochschule St.
Gallen, Horst Biedermann, gibt Antworten.
«Volksblatt»: Kennen Sie den: Fragt der Chemielehrer: «Was ist flüssiger als Wasser?» Sagt Fritzchen: «Hausaufgaben! Die sind überflüssig.»
Horst
Biedermann: Sehr schön (lacht). Womöglich hat Fritzchen sogar recht. Hausaufgaben
können tatsächlich überflüssig sein. Es gibt verschiedene Studien zu dem Thema
und die Forschung ist da recht widersprüchlich. Tendenziell geben die Studien
Fritzchen sogar recht. Hausaufgaben erweisen sich in der Breite der Schüler nur
dann als sinnvoll, wenn es darum geht, bereits vollzogene Lernprozesse zu
vertiefen, also beispielsweise das Einmaleins oder Vokabeln zu üben. Schüler
sollen die Hausaufgaben selbständig erledigen können. Das ist leider nicht
immer der Fall. Dann sind Schüler, deren Eltern diese Hilfestellungen nicht
leisten können, leider stark benachteiligt. Das ist ein grosses Problem. Wir
dürfen die Verantwortung für Lernentwicklungen nicht ins Elternhaus delegieren.
Zum Thema Chancengleichheit gab es kürzlich
eine Studie in Liechtenstein, welche zeigte, dass Kinder mit
Migrationshintergrund bedeutend häufiger in die Oberschule eingeteilt werden.
Wenn man einen Elternsprechtag am Gymnasium besucht, trifft man das komplette
«Who is who?» des Landes. Werden beim Übertritt gewisse Kinder bereits
abgehängt?
Ich
würde das nicht nur am Übertritt festmachen. Ein grosses Problem ist, dass
diese Kinder häufig bereits benachteiligt ins System eintreten. Wir wissen,
dass Kinder in frühen Lebensjahren sehr unterschiedlich gefördert werden, wobei
gerade Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Familien häufig benachteiligt
werden. Die Kinder kommen dadurch bereits mit einem sehr unterschiedlich
gefüllten Rucksack in die Schule. Wenn sie dann auch noch während der Schulzeit
unterschiedliche ausserschulische Unterstützung erfahren, so wird die Schere
sogar noch grösser. Und beim Übertritt pochen bildungsaffine Eltern eher auf
einen höheren Schultyp als solche ohne höheren Schulabschluss. Das von Ihnen
geschilderte Bild des Elternsprechtags am Gymnasium stellt in diesem Sinne das
Ergebnis eines mehrdimensionalen Prozesses und nicht eines einzelnen
Ereignisses dar.
Sie haben vorhin gesagt, Lernprozesse dürften
nicht nach Hause delegiert werden. Auf der anderen Seite hört man oft von
Lehrern, die bemängeln, dass vielen Kindern Anstand, Disziplin und Respekt
fehle und sie diese in der Schule zuerst einmal um- und nacherziehen müssten.
Die
Schule sollte meiner Meinung nach die Bildungsverantwortung haben, und die
Erziehungsverantwortung gehört ins Elternhaus. Da kann sich das Elternhaus
nicht aus der Verantwortung stehlen. Aber die Bildungsprozesse sollten Eltern
den Lehrpersonen überlassen können, denn sie verfügen über die dafür notwendige
Expertise. Natürlich haben Lehrpersonen auch gewisse erzieherische Aufgaben,
sie müssen Strukturen schaffen und Regeln durchsetzen, damit die Schüler
überhaupt lernen können. Zudem gehört es zum Auftrag einer gesellschaftlich
beauftragten Bildungsinstitution, dass die kulturleitenden Normen und Werte
vermittelt und im gemeinsamen Umgang gelebt werden. Aber Erziehung, die darüber
hinausgeht, die stellt Aufgabe des Elternhauses dar.
Denken Sie, dass es da Defizite gibt? Sind
die Kinder schwieriger geworden?
Ich
glaube nicht, dass die Kinder schwieriger geworden sind. Was sich gewandelt
hat, ist das gemeinschaftliche Commitment zur Institution Schule – was
gelegentlich auch mit geringerem gesellschaftlichen Ansehen des Lehrberufs zum
Ausdruck gebracht wird. Hier geht es mir auch um die Unterstützung der
Lehrperson durch das Elternhaus. Die Lehrer sind oftmals in der Situation, dass
ihnen der Rückhalt für disziplinarische bzw. allgemein erzieherische Massnahmen
fehlt. Wenn es früher vom Lehrer «Tatzen» in der Schule gegeben hat, so setzte
sich diese Massregelung zu Hause nicht selten mit einer weiteren Massnahme
fort. Zu begrüssen ist selbstverständlich, dass physische und psychische
Gewalthandlungen in der heutigen Schule nichts mehr verloren haben. Weniger
positiv sehe ich jedoch, dass Eltern heute Lehrpersonen bei deren Massregelungen
eher kritisch als unterstützend entgegentreten.
Ein
Punkt, welcher das Unterrichten auch anspruchsvoller gemacht hat, ist, dass die
Kinder stärker in ihren Unterschiedlichkeiten wahrgenommen werden. Dieses
Abrücken von einer «Gleichmacherei» in der Schule (alle machen zeitgleich und
in demselben Tempo dasselbe) bedingt, dass der Unterricht anders gestaltet
werden muss, was hohe Anforderungen an die Lehrpersonen stellt.
Verschiedene Primarschulen in Liechtenstein
haben in den letzten Jahren umgestellt auf das sogenannte altersdurchmischte
Lernen. So werden beispielsweise an der Primarschule Schaan, Kindergärtler und
Erstklässler gemeinsam unterrichtet, die zweiten und dritten Klassen wurden zur
Mittelstufe und die vierten und fünften Klassen zur Oberstufe zusammengefasst.
So nimmt die Heterogenität der Klassen noch weiter zu. Ist das gut?
Die
Unterschiedlichkeit der Kinder ist so oder so gegeben. Nicht alle Kinder in
einem Jahrgang sind auf dem gleichen Entwicklungsstand, da gibt es eine enorme
Bandbreite. Die neuen Lehr-/Lernformen zielen viel stärker darauf ab, die
Kinder in ihren individuellen Prozessen zu begleiten. Wir kommen dadurch immer
stärker weg vom Frontalunterricht. Wir versuchen, über andere Methoden den
einzelnen Kindern in ihren Entwicklungstempi gerecht zu werden. Sei dies über
Arten von Projektunterricht oder beispielsweise über das sogenannte «peer
tutoring», also, dass sich Kinder gegenseitig unterstützen oder dass sie sich
unterstützt durch verschiedene Hilfsmittel selber Inhalte erarbeiten. Ich
denke, dass die erwähnten neuen bzw. wiederentdeckten Strukturen für
Lehrpersonen, welche Unterrichtsarrangements nach neuen Erkenntnissen
realisieren können, keine Schwierigkeiten darstellen, sondern vielmehr
zusätzliche Möglichkeiten eröffnen.
Aber funktionieren diese Methoden dann auch?
Kann es nicht sein, dass Kinder bequem sind und sich so in der Schule einen
«Lenz» machen und den Anschluss verpassen? Spätestens beim Übertritt ist dann
ja Schluss mit lustig.
Nein,
das glaube ich nicht. Dieser Ansatz setzt darauf an, dass Kinder jeweils dort
abgeholt werden, wo sie stehen. Und wenn den Schülern zudem tatsächlich in
ihren Stärken Freiräume geboten werden, so werden sie diese gerne und motiviert
annehmen. Letztendlich ist diese stärkere Individualisierung des Unterrichts
eine riesige Chance, die Kinder dort zu stärken, wo sie stark sind. Das muss
auch das Ziel sein – es geht nicht darum, immer auf die Schwächen zu schauen.
Denn jedes Kind hat Stärken und aus denen zieht es die Motivation. Diese
Motivation stellt dann auch Motor für die Anstrengungen in den weniger
beliebten Bereichen dar. Denn selbstverständlich sollen auch dort die Lernziele
erreicht werden. Diesbezüglich spricht man von «Regelstandards», welche
erreicht werden müssen, um eine nächste Stufe der Lernentwicklung angehen zu
können.
Ein Problem am Schulsystem ist jedoch, dass
es ein Sprachgenie mit einer Mathe-Schwäche oder ein Mathe-Genie mit
Legasthenie nicht ans Gymnasium schaffen wird. Viele Jugendliche können ihren
Traumberuf nicht ausüben, weil sie an einzelnen Schulfächern scheitern. Müsste
man hier nicht flexibler werden?
Hier
würde ich mir auch wünschen, dass das Bildungssystem etwas flexibler wird.
Warum soll man eine Schwäche nicht durch andere herausragende Stärken
kompensieren können? Unser erfolgreiches Gesellschafts- und Wirtschaftssystem
funktioniert ja auch nur deshalb so gut, weil wir auf die Stärken der einzelnen
Menschen setzen können. Wie bereits erwähnt, sollte es das Ziel der Schule
sein, dass jeder Schüler durch seine Stärken zum «Fliegen» gebracht wird. Dann
wird es auch einfacher fallen, sich mit den eigenen Schwächen auseinander zu
setzen.
Wie gehen die Lehrpersonen mit diesen
Entwicklungen in der Bildungslandschaft um? Es gibt ja Lehrpersonen, die schon
jahrelang ihren Beruf ausüben. Können die so einfach auf diese neueren
Lernformen umstellen?
Da sehe
ich durchaus ein Problem. Die stärkere Fokussierung auf die einzelnen Schüler
verlangt gänzlich neue Unterrichtsgestaltungen, worauf Lehrpersonen auch
vorbereitet werden müssen. Da dies dynamische Prozesse darstellen, würde ich
mir wünschen, dass die Aus- und Weiterbildung in engerer Beziehung stehen, dass
also auch die Weiterbildung ein Stück weit institutionalisiert wird.
Selbstverständlich gibt es Lehrpersonen, die sich in eigener Verantwortung à
jour halten. Aber es gibt auch solche, die sich dem zu wenig widmen.
Sie sind Direktor einer pädagogischen
Hochschule, Sie haben zuvor die Qualität der Lehrerbildung in der Schweiz und
in Europa untersucht und verglichen. Wie gut steht die Schweiz diesbezüglich
da? Sind unsere Lehrer gut ausgebildet?
Ja, die
Lehrerbildung in der Schweiz ist auf gutem Niveau. Wir haben sehr motivierte
junge Menschen, die zu uns an die Hochschule kommen. Natürlich gibt es einzelne,
welche sich weniger gut für den Lehrerberuf eignen. Erhärtet sich dieses Bild
über die erste Phase der Ausbildung, dann trennen wir uns von diesen Personen.
Trotz des grundlegend positiven Bildes gibt es aber auch gewisse Baustellen.
Eines der grossen Probleme ist für mich wie gesagt die fehlende Kopplung der
Ausbildung an Weiterbildung. Die Forschung konnte uns aufzeigen, dass im
Lehrberuf die Expertiseentwicklung nicht automatisch stattfindet – das heisst,
mit mehr Erfahrung werde ich nicht gleich zum Experten. Dazu werden
professionsbezogene Weiterbildungsprozesse benötigt. Auch ein Problem ist, dass
wir in der dreijährigen Primarlehrerausbildung Generalisten ausbilden. Also,
Lehrpersonen, welche alle Fächer unterrichten können müssen. Hier fehlen deutlich
Zeitgefässe oder aber man müsste sich über die Vielzahl an Fächern Gedanken
machen. Zudem sehe ich es als schwierig an, dass Lehrpersonen noch zu wenig gut
auf die eigene professionelle Weiterentwicklung vorbereitet werden – wozu ein
stärkerer Forschungsbezug gehören würde. Es gibt also Herausforderungen, aber
im internationalen Vergleich ist die Lehrerbildung in der Schweiz dennoch im
Spitzenfeld.
Seit einigen Jahren gibt es ja keine
Ausbildung mehr für Kindergärtnerinnen – wer auf dieser Stufe unterrichten
will, braucht auch die Matura und ein Studium. Ist das sinnvoll?
Ja,
meiner Meinung nach braucht es gerade auch in der Unterstufe eine fundiert
wissenschaftliche Ausbildung. Im frühkindlichen Bereich brauchen die
Lehrpersonen grosses Know-how in der Entwicklungspsychologie oder auch in der
Früherkennung unterschiedlicher kognitiver und affektiv-sozialer Defizite. Die
Ansprüche sind hoch, damit Fehlentwicklungen früh erkannt und zielgerichtet
angegangen werden können.
Aber spielt nicht gerade auf der
Kindergartenstufe die emotionale Bindung eine sehr grosse Rolle und auch die
Kreativität. Es gibt viele junge Leute, die auf diesen Ebenen stark sind, aber
die Mathe-Matura nicht schaffen.
Ja, der
Lehrberuf ist in erster Linie ein Beziehungsberuf, weshalb ich fundierte
Ausbildung und Beziehungsfähigkeit auch nie ausschliesse, sondern nur zusammen
denke. Deshalb bin ich auch ein Verfechter von Klassenlehrpersonen. Gerade im
Bereich der frühen bzw. vorschulischen Bildung kann ich mir sehr gut vorstellen
und würde ich mir wünschen, dass Teams mit Expertinnen und Experten aus den
Bereichen der Sozialpädagogik und den Bildungswissenschaften zusammengestellt
werden, die möglichst auch gemeinsam mit den Kindern arbeiten.
Findet man genügend qualifizierten Nachwuchs?
Einerseits klagen viele Eltern und Schüler, dass der Druck an den Schulen
extrem hoch sei und auf der andern Seite hört man Hochschulen und
Lehrlingsausbildner, die jammern, es gebe keine guten jungen Leute mehr.
Die
jungen Menschen heutzutage können enorm viel. Was vielleicht gewissen Personen
auffällt, ist, dass sich gewisse Verschiebungen in den Fähigkeiten ergeben
haben. Wenn ich mir unsere jungen Studierenden ansehe, dann stelle ich fest,
dass sie beispielsweise viel sicherer in ihrem Auftritt sind und auch besser
präsentieren können als wir früher. Dafür sind einige von ihnen im
Rechtschreiben schwächer. Wir mussten an unserer Hochschule wieder
Rechtschreibtests einführen und bieten diesbezüglich auch Stützkurse an. Also
es hat durchaus eine Verschiebung der Fähigkeiten gegeben.
Es haben sich auch die Anforderungen an die
jungen Menschen und das Umfeld geändert. Ist es im Google-Zeitalter tatsächlich
noch sinnvoll, alle Flüsse Afrikas auswendig zu lernen?
Ja und
nein – Gegenfrage: Ist es sinnvoll, die Dinosaurier in der Primarschule zu
behandeln und auswendig zu lernen? Ja, weil fast alle Kinder das lieben und man
dadurch das Gehirn schulen kann, und nein, da es keinen Bezug zum zukünftigen
Leben beinhaltet. So ähnlich sehe ich es mit den Flüssen Afrikas. Das Problem
liegt darin, dass wir das Curriculum noch immer zu wenig den Interessen und
Problemstellungen der jungen Menschen angepasst haben. Junge Menschen sind z.
B. enorm an Themen im Lebensumfeld interessiert – zum Beispiel an Umweltthemen,
an Gemeinschaftsprozessen, sie sind auch interessiert an vielen politischen
Themen – aber weniger an den klassischen politischen Strukturen. Auch die
globalen Prozesse, gerade auch mit Fokus auf die Digitalisierung, interessieren
sie. Das sind alles Themen, die man aufgreifen könnte und anhand denen man auch
wichtige Kulturtechniken erwerben und vertiefen könnte. In Finnland wurde
beispielsweise beschlossen, dass auf der Sekundarstufe die Fächer abgeschafft
und dafür Problemstellungen bearbeitet werden sollen. Auch wenn dieser Schritt
nicht nur neu ist – man denke z. B. an den Projektunterricht –, in der
eingeschlagenen Konsequenz ist er dennoch innovativ.
Also, dass man sich beispielsweise mit
fossilen Brennstoffen beschäftigt und dann dieses Thema von Seiten der
Biologie, Chemie, Geografie, Mathe, Sprachen und so weiter vernetzt aufgreift?
Genau,
das ist die Idee dahinter. Ich habe das Gefühl, dass wir dadurch die jungen
Menschen besser abholen könnten.
Lässt das unser Lehrplan zu?
Begrenzt.
Es gibt Projektarbeiten, da ist es möglich so zu arbeiten. Ein Beispiel ist die
Wirtschaftswoche am Gymnasium, welche ich aber nur aus den Medien kenne. Aber
im täglichen Unterricht ist dies mit dem heutigen Lehrplan schwierig möglich.
In der Schweiz ist die Einführung des
Lehrplans 21 ein grosses Thema. Liechtenstein will dort mitziehen. Gäbe es im
Zuge dessen Verbesserungen in diese Richtung?
Auch
der Lehrplan 21 ist grundsätzlich an Fächern orientiert, weshalb auf dieser
Ebene nicht die grosse Innovationskraft zu sehen ist. Klar bietet er auch ein
Stück weit Raum für Projektarbeiten. Der grosse Vorteil des Lehrplans 21 ist
jedoch, dass man es geschafft hat, die kantonalen Unterschiede aufzulösen.
Ausserdem mussten für die Erarbeitung dieses Lehrplans die Lehrpersonen
zusammensitzen und neue Wege suchen. Daraus entstanden spannende Diskussionen,
gerade was die neu konsequentere Kompetenzorientierung im Unterricht betrifft.
Das war sicher wertvoll. Aber ansonsten wird sich dadurch die Schule nicht
grossartig ändern.
Ein Thema, welches im Lehrplan 21 stärker
Beachtung finden wird, ist der Bereich Informatik. Wenn man mit
Start-up-Gründern redet, dann sagen die, dass Kinder unbedingt programmieren
lernen sollten – programmieren sollte sein, wie eine Fremdsprache. Verschlafen
wir da was?
Ja, ich
glaube auch, dass man Informatik bzw. grundlegend Information- und
Kommunikationstechnologien stärker in den Lehrplan einbeziehen müsste.
Einerseits geht es mir dabei darum, dass sich Kinder in frühem Alter einen
kompetenten und verantwortungsvollen Umgang mit neuen Technologien aneignen. Im
Bereich des Handlings stellen sich diesbezüglich für viele Kinder keine
Probleme, im Bereich der Verantwortung und Ethik aber sehr wohl. Andererseits
stellt die Ebene des Programmierens nicht nur eine zusätzliche Sprache dar,
sondern sie beinhaltet auch eine spezifische Art des Denkens. Diese Art des
Denkens sollte in der Schule auch geschult werden.
In Ruggell gibt es ja beispielsweise
iPad-Klassen – alle Erstklässler bekommen dort ein iPad, welches sie dann durch
die Schulzeit begleitet. Ist das der Weg?
Es
kommt darauf an. Wenn nur Geräte verteilt würden, so hätte dies noch wenig mit
wirksamer Digitalisierung von Schule und Unterricht zu tun. Entscheidend ist,
dass Lehrpersonen digitale Medien wirksam in ihre Lehr-Lernarrangements
integrieren, also die methodisch-didaktischen Konzepte hinter solchen
iPad-Klassen. Auch wenn ich selbst überzeugt bin, dass diesbezüglich gute
Konzepte Lernprozesse nachhaltig beeinflussen können und sich diesbezüglich
auch erste empirische Ergebnisse zeigen, so fallen die Forschungsergebnisse
dennoch immer dünn und uneinheitlich aus. Tendenziell aber zeigt sich, dass
solche Geräte als Werkzeug in Erarbeitungsphasen oder im Bereich des Übens von
Nutzen sein können, wo hingegen sie bei der Lösung von komplexen
Problemstellungen eher hemmend wirken.
Es gibt ja bereits papierlose Schulen,
beispielsweise in skandinavischen Ländern, in welchen nur noch mit solchen
Geräten gearbeitet wird. Was halten Sie davon?
Ich
habe in Dänemark solche Klassen besucht, wobei mich das nicht nur überzeugt
hat. Studien zeigen auch, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsproblemen dadurch noch
stärker Probleme bekommen können. Es gibt auch Kinder, welche stark über die
Motorik ihre Hirnhälften aktivieren, wobei Schreibprozesse eine wichtige
Funktion einnehmen. Würde z. B. nur noch mit Touchscreen gearbeitet, so könnten
diese grosse Mühe mit der kognitiven Aktivierung, Verarbeitung und Speicherung
haben. Die Lösung sehe ich eher in der sinnvollen Kombination als in der
Ablösung der Arbeit mit Papier. Mein Sohn ist im Sommer in Bayern eingeschult
worden. Da wird noch eine Art Schiefertafel als Werkzeug zur Übung der Schrift
verteilt, fast wie vor 200 Jahren (lacht). Ich glaube nicht, dass das nur ein Nachteil
ist. Letztendlich ist das pädagogische Konzept dahinter ausschlaggebend.
Wir haben jetzt verschiedene Trends im
Bildungswesen angesprochen. Für die Politik ist es ja noch schwierig zu
entscheiden, auf welchen Zug man da aufspringen will. Wenn Sie Bildungsminister
wären, was würden Sie ändern?
Das ist
eine grosse Frage (lacht). Was die Forschung zeigt, ist, dass das
Bildungssystem an sich wenig Wirkung hat. Viel entscheidender ist, was die
verantwortlichen Personen aus den jeweiligen Gegebenheiten machen. Die
ursprünglich grosse Initiative hinter dem Pisa-Projekt war ja, dass man sehen
wollte, welches Schulsystem am besten funktioniert. In dieser Perspektive kann
man das Projekt als gescheitert betrachten – die «olympischen» Länderranglisten
zeigen sich nicht entlang von Schulsystemen. In jedem System gibt es
erfolgreiche Klassen und weniger erfolgreiche. Es bringt also wenig, einzig von
oben herab ein Schulsystem zu diktieren und dann darauf zu setzen, dass auf
allen Ebenen Optimierungen eintreten. Letztendlich kommt es auf die Menschen
an, welche in dem System unterrichten. In diesem Sinne wäre es mir wichtig, den
verantwortlichen Menschen mehr Autonomie zu übertragen. Dazu gehört, dass
verstärkte Autonomie den Schulen übertragen wird. Hier sollten noch stärker
eigene Profile wachsen können, entlang der identifizierten Ressourcen und
Stärken. Lehrerteams sind motivierter, wenn sie ihr eigenes pädagogisches
Konzept erarbeiten und umsetzen können, worin ein Grundelement erfolgreicher
Schulen liegt. Letztendlich steht und fällt vieles mit der Motivation der
Lehrpersonen. Wie gesagt, ob sich dann eine Schule für Schiefertafeln oder
iPads als Werkzeug entscheidet, ist zweitrangig. Mit dieser Verantwortung
verbindet sich aber auch, dass Verantwortungen für eigene Weiterentwicklungen
vollzogen werden. Ein damit einhergehendes Kontrollsystem würde dann auf einem
doch stärker wissenschaftlich basierenden Evaluations- und Entwicklungssystem
aufbauen.
Ist das nicht ein bisschen
«Laissezfaire»-Politik?
Nein,
die Politik setzt die gesetzlichen Rahmenbedingungen und der Lehrplan gibt die
zentralen von allen einzuhaltenden Zielsetzungen vor. Nur, wie diese Ziele
erreicht werden, das sollte den jeweiligen Personen an den Schulen freigehalten
werden – dafür sind sie ja die Expertinnen und Experten, deren Ressourcen es
sinnvollerweise optimal zu nutzen gilt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen