19. Januar 2017

Ballung geschlechtsneutraler Formen und die Unterdrückung des Konjunktivs

Liederlichkeit in der Grammatik ist ein Ärgernis, gewiss. Doch wie steht es mit Sprachmoden wie der Ballung geschlechtsneutraler Formen und gedankenlos nachgeäfften Anglizismen? Die sind oft noch schlimmer – und noch schwerer aufzuhalten. 
Rumoren in der Wörter-Waschmaschine, NZZ, 19.1. von Urs Bühler

Seit 1991 lässt die Gesellschaft für deutsche Sprache das «Unwort des Jahres» küren mit dem löblichen Ziel, das gedankenlose Streuen von Begriffen zu hinterfragen. Soeben ist die wenig schmeichelhafte Ehre dem «Volksverräter» zuteilgeworden, von der Jury als «Erbe von Diktaturen» gegeisselt. Sie hat damit sicher keine Unwahl getroffen – was uns zu unserem Vorschlag für die nächste Ausgabe des Wettbewerbs führt: «Unwort». Denn dass man einzelnen Wörtern das Recht abspricht, als Wort zu gelten, klingt doch auch eher despotisch.

Ach, die Wahl der Wörter, sie ist halt ein wunderbares Spiel- ebenso wie ein Minenfeld: Gerade deshalb sind Sprachmoden kritisch zu beäugen. Dieser Erkenntnis sei hier der zweite Teil unserer Sprachbetrachtungen gewidmet, zu deren Fortsetzung wir uns durch die Reaktionen auf den ersten ermutigt sehen: Dieser hat unter dem Titel «Apostrophitis und schlimmere Seuchen» (NZZ 2. 12. 16) ein reiches Echo gezeitigt. Sprachliche Sorgfalt liegt unserer Leserschaft offenbar weiterhin am Herzen.

Die leidige indirekte Rede
Erwartungsgemäss kontrovers aufgenommen wurde unsere Anmerkung, der ganze Schlamassel sei nicht der Rechtschreibereform anzulasten. Viel Zustimmung aber fand die Hauptthese: «Fehlerreich schreiben ist wie Sprechen mit vollem Mund: unanständig – und der Verständigung abträglich.» Dass manche Leserzuschrift, in der eine Lanze für korrekte Sprache gebrochen wurde, eine beachtliche Fehlerquote aufwies, war dabei verschmerzbar. Und dass einige im Artikel selbst die eine oder andere sprachliche Unregelmässigkeit monierten, ob zu Recht oder zu Unrecht, war in unserem Sinn: Wer dazu auffordert, in Sprachfragen genauer hinzuschauen, soll sich nicht wundern, wenn er mit seiner Arbeit selbst zum Ziel der kritischen Blicke wird.

Es sei auch nicht verschwiegen, dass es ein paar Briefe gab, in denen dieser Zeitung ebenfalls leise Tendenz zum Laisser-faire angelastet wurde – etwa bezüglich indirekter Rede. Tatsächlich lässt sich nicht leugnen, dass unsere Branche dabei immer öfter den Konjunktiv unterschlägt. Dafür gebührt ihr eine tüchtige Abreibung, zumal dieses Versäumnis eine der ersten journalistischen Pflichten unterwandert: die Abgrenzung fremder von eigenen Aussagen. Die Sprache soll zur Hölle fahren, sagt der Teufel: Wer hier nicht «solle» wählt, macht sich zu Satans Komplizen, statt ihn bloss zu zitieren.
Wir danken den Leserbriefschreibern, die den Finger auf diesen wunden Punkt legen. Tatsächlich sollten auch wir Journalisten unser Werkzeug öfter prüfen, dann würden seltener haarsträubende Übersetzungen wie «soziale Medien» verbreitet oder Konstrukte wie «vierfache Familienväter», als lebten wir in einem Land der Vielehen. Spezielle Aufmerksamkeit aber gebührt jenem Zürcher Rechtsanwalt, der in seiner Zuschrift auf sprachlich missglückte Verfügungen aufmerksam macht, etwa von Sozialversicherern. Deren entsprechende Texte basierten oft auf mangelhaft vorformulierten Bausteinen, mit falsch verwendeten Wörtern und schief konstruierten Sätzen als Resultat. Er gehe davon aus, schreibt er, dass etwa IV-Verfügungen eine minimale sprachliche Qualität erreichen müssten, damit der Rechtsbegriff einer Verfügung erfüllt sei. Deshalb habe er schon mehrfach in Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eine verständliche, korrekte Sprache eingefordert – und bis jetzt höchstens Spott dafür geerntet. Wir behalten seine Mission im Auge und zitieren gerne seine griffige Variation unserer Pointe: «Wenn die Verwaltung mit vollem Mund spricht, ist das eben mehr als nur unhöflich.»

«TV-Event-Movie» gefällig?
Der öffentlichen Verwaltung seien denn auch die ersten paar Beispiele dieser Darstellung gewidmet – und nicht der Gastrobranche, deren Sprachsünden uns das letzte Mal als Einstieg dienten. Wer auf der Speisekarte «gegrillte Fischteller» oder «geröstete Blumenkohlsuppe» findet, kann sich mit etwas Wohlwollen immerhin amüsieren: Solch sprachliche Missgriffe blühen nicht selten zu unserer Erheiterung, sonst hiessen sie Stildolche statt Stilblüten. Ein wahres Ärgernis sind indes die amtlichen Blähungen und Missbildungen, die unseren Alltag malträtieren. Da tragen Dienstabteilungen gehäckselte Namen wie «Grün Stadt Zürich» oder «Statistik Stadt Zürich», während die Bürger, pardon: Bürgenden, unter dem Mäntelchen der Political Correctness ihrer tertiären Geschlechtsmerkmale beraubt werden: Die Gleichschaltung in Form von Leistungsempfangenden, Mietenden, Kindergärtnenden schreitet so inflationär voran, dass die dergestalt neutralisierte Menschheit ihre Fortpflanzungsfähigkeit einzubüssen droht. Als der Verfasser dieser Zeilen einmal in einer Glosse scherzhaft darlegte, wie Zürich alle maskulin konnotierten Strassennamen verweiblichen oder in neutrale Formen wie «Dienendenstrasse» transferieren wolle, nahmen das bedenklich viele Leute bierernst. Ein Konkurrenzblatt wollte gar sofort nachrecherchieren.

Wenn selbst groteskeste Auswüchse der Sprachmoden den Status einer Realsatire zu erreichen drohen, ist es höchste Zeit, mehr kritische Distanz zu ihnen zu gewinnen. Das gilt ebenso für all die gedankenlos nachgeäfften Anglizismen, die in manchen Kreisen jede noch so schöne Veranstaltung verunstalten, indem sie von der Tauf- bis zur Trauerfeier nur noch eine Bezeichnung kennen: Event. Der wäre auch einmal ein Kandidat für die Kategorie «Unwort des Jahres». Oder was ist davon zu halten, wenn das Schweizer Fernsehen seinem Auftrag zur Förderung des nationalen Zusammenhalts nachzukommen versucht, indem es einen gross angerichteten Historienschinken über den Bau des Gotthardtunnels produziert – und diesen dann als «Das grosse TV-Event-Movie» ankündigt?

Doch der Event ist ja nur die Spitze des Icebergs. Selbst im lokal verwurzelten Unternehmen, in dessen Dienst dieser Artikel – pardon: dieser «Content» – entsteht, wird am Ende mancher Mitarbeiterinformation statt einer Fragerunde ein «Q & A» geboten; das steht nicht für «Quark und anderes», sondern für «Questions and Answers». Und im Berufsalltag von uns braven Content-Erstellern wimmelt es von «Round-ups», «Roll-outs» und «Kick-offs», bis unser Hirn mit einem Blackout droht.

Hüllwörter in Hülle und Fülle
Vielleicht sind Anglizismen, deren Verfechter gerne die Völkerverständigung vorschieben, nur deshalb so beliebt, weil ihre Bedeutung oft halb im Dunkeln bleibt? Dann wären sie in einem Atemzug mit den Euphemismen zu nennen, diesen Pendants zur Schluckimpfung, die uns ihre bittere Medizin auf einem Würfelzucker reichen. So tarnen sich unüberbrückbare Widersprüche heute als Zielkonflikte und Probleme als Herausforderungen (die wir natürlich nicht bald, sondern zeitnah meistern). Auch bei den Hüllwörtern können wir zudem auf amtliche Stellen bauen. Die harmlosen Beispiele liefern die Zürcher Verkehrsbetriebe im fast schon rührenden Versuch, das Reizwort «Verspätung» zu vermeiden. Bei winterlichen Strassenverhältnissen etwa teilen sie mit, ihre Fahrzeuge verkehrten «in unregelmässigen Zeitabständen».


Doch zum Thema Euphemismen wäre weiter auszuholen. Machen wir hier also einen Punkt, bevor wir noch den Humor verlieren und aus dem Leit- ein Leidartikel zu werden droht. Das Schlusswort gebührt Bertolt Brecht mit einem Eintrag aus seinen Tagebüchern: «Man hat seine eigene Wäsche, man wäscht sie mitunter. Man hat nicht seine eigenen Wörter, und man wäscht sie nie.» Wir müssen weder den allgemeinen Wortschatz noch den persönlichen gleich in die Waschmaschine stecken. Aber es spricht doch einiges dafür, Begriffe und Wendungen ab und zu etwas zu drehen und zu wenden, statt sie unbesehen nachzuplappern.

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