24. November 2016

Postfaktische Schulentscheide

Die Oxford Dictionaries haben das Wort «post-truth» (postfaktisch) zum internationalen Wort des Jahres 2016 gewählt. Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und ­persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde.
Die UNO pfeift, Basel springt, Basler Zeitung, 24.11. von Roland Stark


Auch die in unserem Kanton neu aufgeflammte Diskussion über Vor- und Nachteile der integrativen Schule bewegt sich weitgehend auf dieser faktenfreien Ebene. Die Volksschulleitung behauptet allen Ernstes, dass das Behindertengleichstellungsgesetz die im Grossen Rat und im Einwohnerrat Riehen geforderte Schaffung von Einführungsklassen in der Primarschule verbiete. Eine substanzielle pädagogische Begründung liefert das Erziehungsdepartement leider nicht mit.

In der Sonder-, Heil-, Behinderten- oder Rehabilitationspädagogik finden sich allerdings sehr unterschiedliche Auffassungen darüber, ob das Fortbestehen spezieller Einrichtungen dem Inklusionsgedanken tatsächlich widerspreche. In der UN-Konvention von Salamanca von 1994 ist an keiner Stelle die Rede davon, dass Sonder­schulen abzuschaffen seien. Im Mittelpunkt der Bemühungen um die Integration stehen die ­Erfüllung der Bedürfnisse aller Lernenden und weniger organisatorische Fragen.

So kann sich die Gebärdensprache Gehörloser nur dort entfalten, wo den Betroffenen ein ­entsprechender sozialer Ort bereitgestellt wird. Ähnlich verhält es sich im Hinblick auf intensiv­pädagogische Angebote bei schwer verhaltens­gestörten Schülern. «Ein überschaubarer institutioneller Rahmen ist die Voraussetzung dafür», schreibt Prof. Dr. Bernd Ahrbeck, «dass sich intensive Beziehungserfahrungen einstellen, die für eine persönliche Veränderung unabdingbar sind.»

Der Kanton Basel-Stadt hat beschlossen, die Unesco-Erklärung mit der generellen Zielsetzung einer «Bildung für alle» kompromisslos umzusetzen: Demontage der Kleinklassen, Liquidation der Einführungsklassen, Reorganisationen beim Logopädischen Dienst, bei der Psychomotorik und bei der Sprachheilschule und so weiter.

Als magere Alternative wurden in den Klassen Förderlehrer installiert. Ein mobiler Notfall-­Reparaturdienst mit hohem Gesprächs- und Abstimmungsbedarf.

Die Konsequenzen sind weniger spürbare ­Verbesserungen des Förderangebots für lernschwache Kinder als vielmehr zusätzliche Unruhe und Verzettelung im schulischen Alltag und eine kräftezehrende Vermehrung des bürokratischen Aufwandes für die unterrichtenden und beurteilenden Personen. Ein radikaler Um(Ab)bau, ­vollzogen mit missionarischem Eifer und ­realitätsfernem Idealismus.

Diese Bildungspolitik ist aber nicht «alternativ­los», um den Lieblingsbegriff der deutschen ­Kanzlerin zu verwenden. «Freiheitlich angelegte demokratische Strukturen vertragen sich nicht mit ekklesialen Alleinseligmachensansprüchen», mahnt Emil E. Kobi, ehemals PD für Heilpädagogik an der Universität Basel. «Unterschiedliche kulturelle Erwartungen erfordern eine variantenreiche Schule. Schule bedarf, gerade für Behinderte, der Wahl- und Wechselmöglichkeiten.» Zu Recht weist Kobi darauf hin, dass Erziehung und Bildung stets kultureller Rahmenbedingungen, Orientierungen und einer gesellschaftlichen und ideellen Trägerschaft bedürfen.

Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass eine UN-Konferenz in der malerischen Provinz ­Kastilien-León entscheidet, welche Schulmodelle in Basel-Stadt zulässig sind.


1 Kommentar:

  1. Wie alle internationalen Empfehlungen geht auch die Erklärung von Salamanca von Mindestanforderungen aus. Diese gelten für diejenigen Staaten, die Behinderte gar nicht oder nicht unter dem Dach der Volksschule geschult haben. Eine Minderheit von Staaten, hat ihre Behinderten nicht nur unter dem Dach der Volksschule, sondern auch noch von speziell ausgebildeten Lehrern in speziellen Klassen (Sonderschule, Kleinklassen usw.) geschult, was natürlich teurer ist, als in der Regelschule. Wenn nun diese Staaten unter dem Vorwand der Nichtdiskriminierung, diese speziellen Klassen abschaffen und die Schüler in der Regelschule unterbringen, um (kurzfristig) Kosten zu sparen, widerspricht das den Empfehlungen von Salamanca diametral. Anstatt unter Ihresgleichen die Möglichkeit zu haben, auch einmal zu den besseren zu gehören, erleben sie in der Regelklasse tagtäglich ihr Unvermögen. Was als Nichtdiskriminierung daher kommt, ist für die Betroffenen ein tägliches Spiessrutenlaufen, das sie enorm schwächt.

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