5. November 2016

Grosse Bewegungsdefizite

Immer mehr Kinder leiden unter grossen Bewegungsdefiziten. Schuld daran sind auch die Eltern, welche ihre Kinder vor allen Gefahren beschützen wollen.
Heute nicht mehr möglich: Klettern an der Stange um 1940. Bild: Hans Staub
Sie können nicht mal einen Purzelbaum, Blick, 5.11. von Romina Lenzlinger und Beat Michel 
Kinderturnen in Dietikon ZH. Weil die Halle im oberen Stock des Gebäudes liegt, müssen die Kindergärtler fünf Stufen hochsteigen. Alle rennen hinauf. Nur Martin* (5) kommt kaum mit. «Er läuft wie ein Zweijähriger und zieht bei jeder Stufe ein Bein nach», sagt Kindergärtnerin Céline Lamm (29).

Der Bub ist kein Einzelfall. Immer mehr Kinder leiden unter grossen Bewegungsdefiziten. Sie können kaum mehr Treppen steigen, keinen Hampelmann machen – und nicht mal einen Purzelbaum schlagen. Auch Velofahren, auf einer Mauer balancieren oder einen Ball fangen ist für die Kleinsten eine grosse Herausforderung.

Die Eltern haben zu viel Angst

Schuld ist die Angst der Eltern. Sie schränken die Bewegungsfreiheit ihrer Kinder zunehmend ein. «Sie glauben, dass sie ihren Nachwuchs pausenlos beschützen müssen. Dadurch lassen sie die Kinder kaum mehr selbständig spielen und ihre Erfahrungen machen», sagt Lamm.

Ein Beispiel sei der Spielplatz. «Weil viele Eltern Risiko und Gefahr nicht mehr auseinanderhalten können, bekommen sie schon Angst, wenn ihr Spross alleine auf der Schaukel sitzt.» BLICK hat bei Eltern nachgefragt – und erstaunlich selbstkritische Antworten bekommen. 

Ruth Fritschi, die oberste Kindergärtnerin vom Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, appelliert an die Erziehungsberechtigten: «Die Eltern sollen wieder mutiger werden und ihren Kindern Gelegenheit geben, sich selber herauszufordern. Mit einer übergrossen Angst behindern sie die Entwicklung ihrer Sprösslinge.»

Kinder sollen sich vermehrt wieder frei bewegen dürfen

Auch Dominique Högger, Dozent an der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz, ist besorgt: «Wenn den Kindern die Basiskompetenzen fehlen, hat dies ernsthafte Konsequenzen.» Neben der fehlenden Motorik haben Kinder oft auch Probleme mit dem räumlichen Sehen.

«Kinder müssen das Sehen aus dem Augenwinkel oder auch die Einschätzung von Distanzen und Geschwindigkeiten erst erlernen. Das ist im Strassenverkehr von grosser Bedeutung.» Solche Fähigkeiten erlangt das Kind am besten, wenn es sich frei bewegen und spielen kann.

Sitzt es vorwiegend vor dem Fernseher, wird sein Auge aber nur einseitig geschult. Ein weiterer Punkt ist die Auge-Hand-Koordination, welche Kinder etwa durch das Spielen mit Bauklötzli erlernen. Auch hier beobachten die Lehrer teils grosse Defizite. «Kinder, die in ihrem Spiel wenig Gelegenheit haben, das Zusammenspiel von Auge und Hand zu üben, haben später in der Schule oft Mühe mit dem Schreiben», sagt Högger.


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