2. Oktober 2016

Zwischen Bildungsoffensiven und Chancengleichheit

Wenn von «Bildungsoffensiven» an Schulen und Universitäten die Rede ist, geht es gemeinhin um eine möglichst gut verwertbare Ausbildung. Der ursprüngliche Bildungsgedanke der Aufklärung verschwindet dabei zusehends aus der Diskussion.
Ein Potenzial für alle Fälle, Wochenzeitung, 15.9. von Daniel Stern


Kinder aus der Unterschicht werden an den Schulen systematisch benachteiligt. Diese Erkenntnis ist nicht neu. Verrückt ist aber, dass sich bis heute daran kaum etwas geändert hat. Die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm hat kürzlich in einem Papier unter dem Titel «Arbeiterkinder an die Hochschulen!» dargelegt, wie die typische Schulkarriere eines Arbeiterkinds nach einer selbsterfüllenden Prophezeiung ablaufe: Viele LehrerInnen gingen davon aus, dass Kinder aus der Unterschicht einfach schlechter sein müssten. Demzufolge bekämen sie bei gleicher Leistung tiefere Noten als Kinder aus Akademikerkreisen. Das sowieso schon meist verminderte Selbstwertgefühl der Arbeiterkinder werde dadurch weiter geschwächt, was ihre Leistung zusätzlich beeinträchtige. Sie würden dann sehr schnell eine missratene Prüfung mit mangelnder Begabung erklären und schulischen Erfolg mit Glück. Akademikerkinder dagegen würden von ihren Eltern systematisch gefördert und schon früh auf eine erfolgreiche schulische Karriere vorbereitet.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat bereits in den sechziger Jahren das Bildungsgefälle mit dem unterschiedlichen Habitus der einzelnen gesellschaftlichen Klassen erklärt. Jede Klasse habe etwa ihren eigentümlichen Lebensstil, spezifische kulturelle Gewohnheiten, einen eigenen Sprachgebrauch und einen speziellen Geschmack. Wer mit dem Habitus der Oberschicht in einer Bildungseinrichtung aufkreuze, sei von Anfang an im Vorteil. Bourdieu schreibt von «Sanktionen», die das Bildungssystem über die «unterprivilegierten Klassen» verhängt, weil sie nicht den passenden Habitus verinnerlicht haben. Dadurch werde die Struktur der Klassenbeziehungen verfestigt.

Margrit Stamm macht in ihrem Papier Vorschläge, wie das Gefälle überwunden werden kann. Sie lassen sich auf einen Nenner bringen: «fördern, fördern, fördern». «Intellektuell begabte und interessierte Arbeiterkinder» bräuchten «Herausforderungen und Ermutigungen». Es brauche Förderprogramme ab dem Kindergarten und «Potenzialanalysen».

Der Wettbewerbsstaat
Auch die Intelligenzforscherin Elsbeth Stern spricht von Potenzial: In der Wochenzeitung «Zeit» forderte sie kürzlich Intelligenztests für tendenziell benachteiligte SchülerInnen. So liesse sich feststellen, «was ihr wirkliches, aber noch ungenutztes Potenzial ist». Das Sprachrohr des Bildungsbürgertums betitelt seine Story ganz klassenkämpferisch mit «Sprengt die Akademiker-Elite!» und bezeichnet die Privilegierung von Kindern aus höheren Schichten als «Skandal» – nicht nur, weil damit junge Menschen aus der Mittel- und Unterschicht um ihre Aufstiegschancen gebracht würden, sondern auch, weil die Schweiz damit ihr «intellektuelles Potenzial» nicht ausschöpfe. Die Zahl der GymnasiastInnen sei nicht zu erhöhen, sondern es müssten endlich die Richtigen, also die Intelligentesten, dorthin gelangen. Alles andere sei ein «volkswirtschaftlicher Blödsinn».

An dieser neu entfachten Diskussion fällt auf, dass die Forderung der Chancengleichheit mit ökonomischen Argumenten vermischt wird. Es geht um das «Potenzial» des Nachwuchses, das besser ausgereizt, sprich für die Wirtschaft verwertbar gemacht werden soll. Geht es im Grund gar nicht um die Aufweichung von Ungerechtigkeiten? Sondern geht es vielmehr um die Volkswirtschaft Schweiz, die Betriebe in diesem Land, die das ganze «Potenzial» der aufwachsenden Generation abschöpfen soll?

Tatsächlich ist in der Schweiz seit geraumer Zeit von einer «Bildungsoffensive» die Rede, bei der etwa das «Potenzial» ausgeschöpft und damit der «Standort Schweiz» gestärkt werden soll. Solchen Argumenten liegt ein Wettbewerbsdenken zugrunde. Staaten stehen nach dieser Logik immer in Konkurrenz zueinander, wobei sich der eigene Staat zu behaupten habe. Auch für Bundespräsident Johann Schneider-Ammann ist Bildung der Schlüssel des «Werkplatzes Schweiz». Kürzlich verlangte er eine Verschärfung der Maturaprüfung, was sowohl von der Konferenz Schweizerischer GymnasialrektorInnen wie von der Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen umgehend begrüsst wurde. Es soll nicht mehr möglich sein, Defizite in Sprache und Mathematik mit guten Leistungen etwa in Musik und Sport zu kompensieren – lieber weniger MaturandInnen, dafür «bessere». Die Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren will denn auch die Maturitätsprüfungen «harmonisieren» und die Anforderungen an Mathematik und Erstsprache «präzisieren». Es geht also nicht um ein allgemeines Anheben des Bildungsniveaus, sondern um eine sehr spezifische Auswahl der «Besten», die über Qualifikationen verfügen, die sich gut verwerten lassen.

Der ehemalige Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand brachte diese Tendenz kürzlich am Swiss Economic Forum auf den Punkt, als er behauptete, dass der derzeitige Lehrplan der Schulen wie aus der Zeit der ersten industriellen Revolution aussehe. Um für die laufende vierte industrielle Revolution gewappnet zu sein, brauche es mehr: Jedes Kind müsse programmieren lernen. Es werde künftig nicht nur Firmen, sondern ganze Länder geben, die technologisch überholt und abgehängt würden.

Haltungen sind Nebenaspekt
Was Schneider-Ammann durch die Blume sagt, bringt Hildebrand unverhohlen zum Ausdruck: Es geht hier nicht um Bildung, sondern um Ausbildung und deren anschliessende ökonomische Verwertung. Bildung wurde im Zeitalter der Aufklärung als Aufgabe verstanden, ein ganzer Mensch zu werden, einen Charakter und eine Persönlichkeit auszubilden. Wissen, das man sich aneignete, hatte nicht primär einen unmittelbaren Zweck zu erfüllen. Der Mensch sollte sich selber bilden und verändern, damit er als selbstbestimmtes Individuum die Gesellschaft mitgestalten kann. Bildung war also dazu da, den Menschen zur Vernunft und Mündigkeit zu führen.

Natürlich ist dieser Bildungsbegriff primär eine schöne Wunschvorstellung und war schon damals mehr eine Vision als eine im grossen Stil umgesetzte Realität. Und wenn, dann war diese Form von Bildung immer primär für die Oberschicht gedacht. Der Bildungsbegriff ist denn auch eng verknüpft mit dem im 18. und 19. Jahrhundert aufstrebenden Bildungsbürgertum, das sich primär über seine Bildung – gerade eben auch im weiter gefassten Sinn – definierte und sich einen entsprechenden elitären Habitus aneignete. Ein egalitärer Ansatz war das nie. Doch dieser Bildungsbegriff hat sich zumindest bis heute erhalten und findet sich der Spur nach immer noch in Lehrplänen und Leitbildern von Schulen und Universitäten.

Auch der viel diskutierte Lehrplan 21, der die Volksschule der Kantone harmonisieren soll, beinhaltet noch Elemente des ursprünglichen Bildungsbegriffs. So soll über «Haltungen und Einstellungen» etwa zu Politik, Lebensstil oder Konsum «nachgedacht und diskutiert» werden. Allerdings ist das ein Nebenaspekt: Im Kern geht es um «Kompetenzaufbau», «Leistungsorientierung» und eine einheitlichere Messung dieser Kompetenzen und Leistungen.

Bildung als Zombie
Die Tendenz zu Kompetenzorientierung in der Bildung degradiere Bildungseinrichtungen zu «marktorientierten Servicezentren», schreibt der Erziehungwissenschaftler Ludwig Pongratz: Der Begriff «Kompetenz» beinhalte bereits Konkurrenz und Wettbewerb. Der Publizist und Philosoph Konrad Paul Liessmann sieht in den aktuellen Bildungsreformen eine Orientierung an «externen Faktoren wie Markt, Beschäftigungsfähigkeit, Standortqualität und technologische Entwicklung», wie er in seinem Buch «Theorie der Unbildung» schreibt. Der Verzicht auf verbindliche geistige Traditionen und klassische Bildungsgüter sei zu einer Tugend geworden. Der Einzelne soll «rasch, flexibel und unbelastet von ‹Bildungsballast› auf die sich stets ändernden Anforderungen der Märkte reagieren» können. So bewege sich die hiesige Gesellschaft nicht auf eine Wissensgesellschaft zu, sondern auf eine Kontrollgesellschaft. Dabei werde niemandem etwas befohlen, es sei eine Herrschaft durch Selbststeuerung in Gang.

Der Ökonom Oliver Fohrmann nennt das in seinem eben veröffentlichten Buch «Im Spiegel des Geldes» eine «zombifizierte Bildung». Bildung, wie sie ursprünglich verstanden worden sei, habe sich in einen Untoten verwandelt. Als Bildung verkleidet, wandle tatsächlich ein «Geldgeist» umher; denn die Schulen und Universitäten seien vom System der Wirtschaft «unterwandert» worden. Es gehe eben nicht mehr darum, dass die SchülerInnen lernten, zu erkennen und frei zu bestimmen, wer sie sein möchten, sondern darum, «alles und noch sich selbst als geldwerte Ressource zu verstehen». Die Schulen hätten also die Aufgabe, die SchülerInnen auf ihr Leben als ProduzentInnen und KonsumentInnen zu konditionieren, statt ihnen Wissen und Einsichten darüber hinaus zu ermöglichen.

Für den Erziehungswissenschaftler Fitzgerald Crain müssen Bildung und Ausbildung Hand in Hand gehen. Der gesamte Stoff, der in Schulen, Berufsschulen und Unis vermittelt werde, könne zu Bildung werden, schreibt er in der Zeitschrift «vpod bildungspolitik». Bildung sei ein Verhältnis zwischen Lernenden, Lehrpersonen und Lerngegenstand, das Neugier und lebendiges Interesse wecke. Diese Form von Bildung entziehe sich der Messbarkeit. «Wenn Unterricht einen Bildungsprozess ermöglicht, stärkt dies die persönliche Autonomie und Freiheit des Menschen», schreibt Crain.

Für Crain ist Bildung eng mit gesellschaftlicher Entwicklung verknüpft. Die Linke müsse sich fragen, wie sich linke Bildungspolitik in einer Welt realisieren lasse, die sich um «return of invest» drehe, in der weltweite Konkurrenz herrsche und die Menschen vorwiegend als Kostenfaktoren betrachtet würden. Vergleichende und flächendeckende Leistungsmessungen würden stellvertretend für eine Bildung stehen, die zu reiner Ausbildung verkommen sei.

Das Potenzial zur Subversion
Wer von Bildungspolitik spricht, muss also auch über gesellschaftliche Visionen reden. Die Tendenzen der aktuellen Bildungspolitik beinhalten Zukunftsvorstellungen, die von einer Weiterführung und Zuspitzung des bestehenden wirtschaftlichen Systems ausgehen. Einzelne müssen sich in dieser Logik vermehrt behaupten und durchsetzen. Sie sollen mit den nötigen Kompetenzen ausgestattet werden, um im Wettbewerb zu bestehen, aber auch, um Unternehmen und den Staat in Konkurrenz zu anderen Unternehmen und Staaten zu stärken.

Diese Zukunftsvision ist verheerend. Denn das Wettbewerbssystem löst keine Probleme, sondern schafft immer neue. Es braucht ganz im Gegenteil mehr Solidarität und Kooperation, um globalen Problemen wie der Erderwärmung entgegentreten zu können, die im Rahmen des Wettbewerbssystems verursacht worden sind. Das Bildungssystem müsste sich darauf fokussieren, neben der Vermittlung von Wissen und Können Raum zu schaffen, damit Schülerinnen und Studenten ihre Persönlichkeit ausbilden können. Es braucht einen Bildungsprozess, der «die persönliche Autonomie und Freiheit des Menschen stärkt», wie Crain schreibt. Die Schüler und Studentinnen sollen also nicht in ein System gezwängt werden, in dem sie bestens ökonomisch verwertbar funktionieren, sondern sie sollten dazu befähigt werden, so ein System zu hinterfragen.

Auch wenn der Trend an den Schulen und Universitäten genau in die andere Richtung läuft, resignieren sollte man deswegen nicht. Bildungsreformen umzusetzen, ist kein einfaches Unterfangen. Vieles lässt sich nicht so einfach von oben herab verordnen. Die in dieser Beilage vorgestellten Projekte an öffentlichen Schulen zeigen, dass es Spielräume für andere Bildungsprozesse gibt, die nicht auf reines Leistungsdenken ausgerichtet sind.
Lehrerinnen und Dozenten sind auch nicht einfach blosse BefehlsempfängerInnen von staatlichen Verordnungen. Wie sie ihr Verhältnis zu den Lernenden gestalten, liegt immer noch zu einem grossen Teil in ihrer Verantwortung. Der Staat kann nicht in jedes Schulzimmer und jeden Seminarraum blicken. Lehrpersonen haben im Unterricht viele Gestaltungsmöglichkeiten und können Schwerpunkte setzen, die der Persönlichkeitsentwicklung dienen und die Solidarität und Kooperation zwischen den SchülerInnen fördern.

Nicht unterschätzen sollte man auch die Schülerinnen und Studenten selber. Sie sind ja nicht einfach zu programmierende Maschinen, sondern entwickeln auch ausserhalb der Bildungsinstitutionen eine Persönlichkeit und Autonomie. Das tragen sie wiederum in die Schule und Universität hinein. So gesehen sind sie nicht einfach nur ein grosses Potenzial, das die «Wirtschaft» und der Staat für sich vereinnahmen können, sondern, das zeigt die Geschichte, immer auch ein grosses Potenzial für gelebte Subversion und vielfältigen Widerstand gegen das von oben verordnete System.


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