18. August 2016

Eltern zum Mond schicken

Maya Mulle ist Schulmediatorin. Sie kommt ins Spiel, wenn Konflikte zwischen Eltern und Lehrern aus dem Ruder laufen. Im Gespräch zeigt sie jedoch auch das heikle Verhalten einiger Eltern auf.
Im Schulalltag kommt es oft zu einem Gezerre zwischen Eltern und Lehrer, Bild: iStockphoto
Lehrer, die sich schnell angegriffen fühlen, Migros Magazin, 8.8. von Monica Müller
Maya Mulle, manche Eltern würden Sie gern zum Mond schicken. Welche?
Eltern, die nicht gesprächsbereit sind. ­Eltern, die klare Vorstellungen davon haben, was die Schule leisten müsste – und sich immer wieder darüber beklagen, was die Schule aus ihrer Sicht falsch macht. Eltern, die nicht bereit sind, von ihrem alten Schulbild abzurücken. Leute, die nicht schauen, wie die Schule heute ist und darin auch das Positive sehen.
  
Sprechen Sie von überengagierten Eltern mit hoher Bildung?
Nein, von Eltern aus allen Schichten. Das können wohlhabende Eltern mit sehr hohen Erwartungen sein, die viel an die Schule delegieren. Aber auch Migranten, die kaum Kontakt mit der Schule pflegen.

Verklären Eltern die Schule von damals und glauben: Früher war alles besser?
Es geht vor allem um die Erfahrungen der Mütter und Väter. Vielleicht hatten sie eine Lehrperson, die sie toll fanden, und nun wünschen sie sich genau so jemanden für ihr Kind. Oder die Lehrerin oder der Lehrer ihres Kindes erinnert sie an jemanden aus ihrer Schulzeit, den sie schwierig fanden. Ich begegne immer wieder Eltern, die einst in der Schule blossgestellt oder gemobbt wurden und dies ihrem Kind ersparen möchten.

Haben Sie selbst solches erlebt?
Ich erinnere mich an markige Sprüche meines Mathematiklehrers wie etwa: «Die einen haben es im Kopf, die anderen in den Beinen und Sie vielleicht nirgendwo.» Manche Kinder hatten andere Talente und steckten solche Kommentare weg, andere erlebten Ähnliches in mehreren Fächern und litten darunter.

Man empfahl mir als Mutter bei der Einschulung: Machen Sie Ihre Probleme nicht zu den Problemen Ihres Kindes. Ein guter Tipp?
Absolut. Für mich heisst das, dass Eltern einen Schritt zurückgehen und sich fragen können: Was sind meine Ängste, was hat mich in meiner Schulzeit verletzt, was hat mich gestärkt? Und dann sollten sie sich überlegen: Was braucht mein Kind, was brauchen meine Kinder? Denn jedes Kind braucht etwas anderes. Das erfordert eine gute Reflexionsfähigkeit der Eltern.

Und doch ist es nachvollziehbar, dass Eltern ihren Kindern schmerzhafte Erfahrungen ersparen möchten. Wie sollten Eltern agieren?
Schwierige Situationen gehören zum Leben. Kinder sollten schon früh lernen, dass es Stolpersteine gibt und dass die Eltern sie bei der Lösung der Probleme begleiten. Das kann schon beim Übertritt vom Kindergarten in die 1. Klasse geschehen. Für Kinder ist es schmerzlich, wenn sie nicht in die gleiche Klasse eingeteilt werden wie ihre Freundinnen und Freunde. Sie müssen Abschied nehmen, sich allein in der neuen Gruppe behaupten. Dabei ist die verständnisvolle und motivierende Begleitung der Eltern hilfreich. Räumen Eltern ihrem Kind alle Hindernisse aus dem Weg und steht dieses dann mit 18 erstmals allein vor einem Problem, fehlen ihm Lösungsansätze.

Bei welchen Konflikten zwischen Eltern und Schule werden Sie beigezogen?
Wenn ein Konflikt eskaliert ist und die Fronten verhärtet sind. Vielfach geht es darum, dass Eltern glauben, ihre Kinder würden unfair behandelt. Sie werden hellhörig und deuten alles, was die Kinder zu Hause erzählen, entsprechend. In solchen Situationen haben Eltern Mühe, die Lehrerin oder den Lehrer als Respektsperson zu akzeptieren.

Können Sie ein Beispiel nennen?
Eine Gruppe von Müttern beobachtete, wie ein Lehrer ein Kind während eines Spiels zurechtwies und das Kind zu weinen begann. Etwas später erfuhren die Mütter, dass ihre Kinder der Klasse dieses Lehrers zugeteilt worden waren. Sie wollten dies auf alle Fälle verhindern. Die Vorgeschichte war ihnen nicht bekannt, und sie wussten auch nicht, ob der Vorfall aufgearbeitet worden war. Der Austausch mit dem Lehrer gab den Müttern dann das Vertrauen zurück.
  
Wie gehen Sie in solchen Fällen vor?
Ich führe Einzelgespräche: mit der Lehrperson, den Eltern und wenn möglich auch mit dem Kind. In diesen vertraulichen Gesprächen mache ich mir ein Bild der Situation aus Sicht der jeweiligen Person. Ich weiss dann von allen, welches Ziel sie im gemeinsamen Gespräch verfolgen und sorge dafür, dass alle ihre Anliegen äussern können. Im Einzelgespräch ermuntere ich dazu, Erfahrungen und Befürchtungen anzusprechen und nicht bloss Forderungen zu formulieren.
Verhaltensänderungen brauchen viel Zeit.

Wie erfolgreich verlaufen die Gespräche?
Oft erfolgreich, aber nicht immer. Manchmal habe ich den Eindruck, dass beide Seiten die gemeinsam getroffenen Lösungen umsetzen können. Verhaltensänderungen brauchen aber viel Zeit. Gerade in Stresssituationen fallen wir in alte Muster zurück. Meine Tochter sagte mir einmal, ich solle mich einfach aus der Sache raushalten, sie würde selbst mit der Lehrperson gut zurechtkommen. Überhaupt finde ich es hilfreich, wenn die Kinder auch angehört werden und die Eltern die Situation aus der Sicht des Kindes beschrieben bekommen. Fragen wie «Was wünscht du dir von deinen Eltern?» oder «Was könnte dazu beitragen, dass du dich besser konzentrieren kannst?» können zu guten Lösungen führen.

Sind die Lehrpersonen zu wenig sensibel oder die Eltern zu fordernd?
Lehrpersonen mangelt es manchmal an der nötigen Sensibilität, und sie fühlen sich schnell angegriffen. Oft drücken sich die ­Eltern auch ungeschickt aus. Würden sie von ihren Ängsten, Sorgen und Wahrnehmungen sprechen und diese einfach in den Raum ­stellen, könnten sie den Ball der Lehrperson zuspielen – ein Dialog könnte entstehen. Stattdessen erheben viele Eltern Vorwürfe und stellen Forderungen. Das wiederum macht es schwierig für die Lehrer, sich auf eine Diskussion einzulassen. Manche Lehrpersonen sind sich auch nicht bewusst, wie sie wirken.

Wirklich? Das weiss doch meist das ganze Quartier …
Diese Zuschreibungen, die im Quartier oder Dorf über Lehrer kursieren, sind problematisch. Oft sind Eltern gegenüber gewissen Lehrern negativ eingestellt, obwohl sie diesen noch nie begegnet sind. Dasselbe gilt auch umgekehrt. Hatten Lehrpersonen bereits ein schwieriges Kind aus einer bestimmten Familie, sind sie dem Bruder oder der Schwester gegenüber auch voreingenommen.

Fällt die Lehrerin oder die Schulpflege unliebsame Entscheide, empfinden Eltern oft ein Gefühl der Machtlosigkeit.
Da muss die Schule noch viel dazulernen. Vielen Lehrerinnen und Lehrern ist nicht bewusst, dass etwas, das schriftlich formuliert noch so korrekt sein kann, die Eltern emotional nicht abholt, sondern ganz viel Frust auslöst. Dann braucht es nur noch ein, zwei Mütter oder Väter, die negativ darauf reagieren und mit anderen Eltern diskutieren – und schon wird eine Negativspirale in Gang gesetzt.
Was Eltern emotional nicht abholt, löst ganz viel Frust aus.

… die dann wiederum das Bild der «schwierigen Eltern» zementiert.
Dass Lehrer Eltern oft als schwierig wahrnehmen, hat auch mit den unterschiedlichen elterlichen Erwartungen an Schule und Bildung zu tun. Die einen möchten, dass ihre Kinder möglichst lange Kind sein können – ohne Leistungs- oder ­Notendruck. Den anderen ist es wichtig, dass ihre Kinder gefordert und gefördert werden und ins Gymnasium kommen. In anderen Kulturen wiederum hat Selbständigkeit ­keinen Wert. Eine Lehrperson kann nie allen Erwartungen für alle 24 Kinder in einer Klasse gerecht werden.

Lehrer beobachten, dass Eltern anspruchsvoller geworden sind. Worauf führen Sie das zurück?
Die wirtschaftliche Lage verängstigt Eltern, der Arbeitsmarkt ist hart geworden. Eltern möchten ihre Kinder möglichst früh wappnen, damit sie ihren Lebensstandard halten können. Auch negative Medienberichte über die Schule sorgen für Verunsicherung. Und mit düsteren Szenarien zum Lehrplan 21 schüren Politiker die Ängste der Eltern.

Gegner kritisieren, dass die Vermittlung von Wissen durch den Lehrplan 21 in den Hintergrund rückt.
Viele Eltern können sich nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn Kompetenzen stärker gewichtet werden. Sie befürchten, dass Wissen verloren geht. Das verunsichert. Doch ohne Wissen gibt es keine Kompetenzen. Ich denke, unter dem Strich ist der Inhalt des Lehrplans 21 weniger wichtig als die Beziehung, die ein Kind mit seiner Lehrperson hat. Ob diese gut ist, hängt auch stark davon ab, wie die Eltern zu Hause über Schule und Lehrer sprechen. Horchen die Eltern bloss bei Negativem auf, hören die Kinder die Unzufriedenheit aus der Reaktion heraus und bekommen Mühe, sich auf die Lehrperson und das Lernen einzulassen.

Welche Tipps geben Sie Eltern mit für den Schulstart?
Eltern sollten offen sein für das, was kommt. Es ist wichtig, dass sie ihrem Kind die Möglichkeit geben, selbst Erfahrungen zu machen. Ein Vater kann den Schulweg unzumutbar finden, eine Mutter den Pausenplatz zu gross, beide mögen denken, das kann nicht gut kommen, wenn mein Kind mit diesem oder jenem Kameraden in die Klasse kommt. Dennoch sollten sie dem Kind eine positive Grund­haltung mit auf den Weg geben: Es ist ein Start, es beginnt etwas Neues – wir schaffen das gemeinsam. 

Maya Mulle (63) ist Organisationsberaterin, Mediatorin und leitet die Fachstelle Elternmitwirkung seit 17 Jahren


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