17. August 2016

Berset: Es gibt keine Alternative zum Primarfranzösisch

Bundesrat Alain Berset duldet im Sprachenstreit keine Abweichler. Primarschüler müssten eine zweite Landessprache lernen. Sonst drohten uns belgische Verhältnisse.
Berset: "Wenn man eine Diskussion beginnt, muss man auch bereit sein, diese zu Ende zu führen", Bild: Dominic Büttner
"In Bern bestelle ich auf Deutsch", Tages Anzeiger, 5.8. von Anja Burri und Raphaela Birrer

Sie essen oft auswärts in Bern. In welcher Sprache bestellen Sie?
Eine interessante Frage (überlegt). In Bern bestelle ich auf Deutsch.

Wo haben Sie Deutsch gelernt?
Ich habe im Kanton Freiburg in der vierten oder fünften Klasse damit begonnen. Im Studium spielte Deutsch keine Rolle mehr. Erst als ich mit 30 Jahren für meine Doktorarbeit nach Hamburg ging, musste ich wieder Deutsch sprechen.

Hand aufs Herz: Mochten Sie den Deutschunterricht?
In der Schule war für mich das Lernen von Fremdsprachen nie so einfach. Später aber lernte ich ganz bewusst Deutsch. Es war für mich einfach klar, dass ich als Schweizer mehr als eine Landessprache beherrschen möchte.

In der Deutschschweiz ist Frühfranzösisch so umstritten, dass der Bundesrat mit einem Eingriff in die Bildungshoheit der Kantone droht. Lässt sich die Begeisterung für eine Sprache politisch verordnen?
Nein, dem Bundesrat geht es darum, eine Debatte zu lancieren. Vor den Sommerferien hat er drei Vorschläge in die Vernehmlassung geschickt, um sicherzustellen, dass alle Primarschüler eine zweite Landessprache lernen. Wir gehen dabei nicht über den Sprachenkompromiss hinaus, auf den sich die Kantone vor zwölf Jahren einstimmig geeinigt haben. Letztlich unterstützen wir sie darin, ihren eigenen Beschluss durchzusetzen.

Einige Kantone haben diese ­Sprachenstrategie nie umgesetzt. Warum haben Sie sich ausgerechnet jetzt entschieden, einzugreifen?
Weil es in gewissen Kantonen die Tendenz gibt, die Bundesverfassung zu ­ritzen. Diese verpflichtet dazu, den ­obligatorischen Schulunterricht zu harmonisieren. Der Bildungsartikel wurde in einer Volksabstimmung mit über 85 Prozent Ja-Stimmen angenommen. In einer zunehmend mobilen Gesellschaft ist das Bedürfnis nach einer gewissen Harmonisierung verständlich. Familien wollen die Möglichkeit haben, ohne schulische Nachteile den Wohnkanton zu wechseln. Die Kantone machen zwar viel für diese Harmonisierung, aber beim Fremdsprachenunterricht sind sie noch nicht so weit, wie sie sein müssten.

Aber die Kantone wollen das Problem alleine lösen. Sie verstehen Ihr Vorgehen als Eingriff.
Es wäre angenehm für einige Beteiligte, zu sagen: Es wird schon alles gut. Doch was ist, wenn die Kantone keine Lösung finden? Um den Zusammenhalt unserer mehrsprachigen Schweiz zu sichern, müssen wir uns gegenseitig verstehen. Wer wird die Verantwortung tragen, wenn diese Voraussetzung wegfällt? Der Bundesrat ist nicht bereit dazu. Die ­Kantone haben die Bildungshoheit und stehen in der Pflicht. Föderalismus heisst eben nicht nur Selbstbestimmung. Jeder Kanton trägt mit seinen Entscheiden auch Verantwortung für das ganze Land.

Einzelne Kantone wollen diese Verantwortung auf ihre Weise wahrnehmen. Der Thurgau hat Ideen, wie er Französisch auf der Sekundarstufe verbessern will. Warum lassen Sie das nicht zu?
Es gilt die Verfassung, als Bundesrat können Sie doch nicht einfach sagen: Betrachten wir unseren Föderalismus als Labor. Behandeln wir unsere Landessprachen, unsere Schweiz als Versuchskaninchen, an denen jeder seine Sprachenlösung austestet. Es gibt andere Länder, die heute feststellen, dass sie zu lange zugewartet haben. Dann wird das Zusammenleben schwierig.

Sie meinen Belgien?
Zum Beispiel, genau.

Haben Sie konkrete Anhaltspunkte, dass der nationale Zusammenhalt aufgrund des Sprachenunterrichts gefährdet ist?
Es ist falsch, die Sprache nur als Kommunikationsmittel zu sehen. Dann könnten wir in der Schweiz einfach Esperanto miteinander sprechen. Die Sprache ist viel mehr. Sie transportiert auch Kultur, Werte, Geschichte. Ich sehe das bei mir selber. Als ich in der Lage war, auf Deutsch zu lesen und mich mit Deutschschweizern zu unterhalten, öffnete sich eine neue Welt. Ich lernte die Schweiz von einer anderen Seite kennen. Wie würden wir uns jetzt unterhalten ohne Kenntnisse der anderen Landessprache?

Zum Beispiel auf Englisch, wie es heute schon häufig zwischen den Landesteilen gemacht wird.
Ja, Shakespeares Sprache. Doch dahinter stehen andere Werte, eine andere Welt, eine andere Weltanschauung. Dabei sind wir doch auch stolz auf unsere vier Landessprachen. Davon erzählen wir doch im Ausland jeweils als Erstes. Wenn wir schon so stolz sind darauf, sollten wir auch in unsere Sprachen inves­tieren.

Die Schweiz hat 150 Jahre gut funktioniert ohne Frühfranzösisch. Warum soll nun plötzlich unser Schicksal davon abhängen?
Die Welt wird immer internationaler. Vor 30 Jahren lernte man die Landessprachen im Beruf oder in der Armee. Das hat sich verändert. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Dorf gemacht, in dem in der Regel Englisch gesprochen wird. Da ist es umso wichtiger, zu wissen, wer wir sind und woher wir kommen.

Spricht die Globalisierung nicht dafür, Englisch zu fördern?
Nein. Es ist viel einfacher, Englisch zu lernen als eine Landessprache. Es geht auch um die Sensibilisierung: He, wir haben noch andere Landessprachen und Kulturen! Das ist toll! Nicht alle ­welschen Schüler müssen Deutschschweizer Schriftsteller im Original ­lesen können. Aber sie sollen die Grundlagen erhalten, dies später zu lernen.

Dieses Ziel wird heute mit zwei Fremdsprachen in der Primarschule verfehlt: Von den Zentralschweizer Achtklässlern erreichen keine zehn Prozent die nötigen mündlichen Französischkompetenzen. 
Dieses Resultat muss zu denken geben. Stellen Sie sich vor, man würde ähnliche Defizite bei der Mathematik feststellen: Würde man dann auch sagen, wir streichen den Mathematikunterricht in der Primarschule? Nein, viel eher würde man ihn verbessern.

Greift der Bundesrat in die Hoheit der Kantone ein, droht ein Referendum. Haben Sie keine Angst, dass dabei Englisch gegen ­Französisch ausgespielt wird?
Die richtige Frage lautet: Ist es in unserem Land möglich, solche Fragen zu diskutieren? Die Gegner von Frühfranzösisch werden es schwer haben, zu erklären, weshalb wir bald nur noch Englisch miteinander sprechen sollen. Die Fremdsprachendiskussion sollten wir mit der ganzen Bevölkerung führen – bevor es zu spät ist.

Betroffene Kantone sagen klar: Wegen einer Vernehmlassung des Bundesrats werden wir unseren erfolgreichen Sprachenunterricht nicht ändern.
Erfolgreich? Wer hat das gesagt?

Zum Beispiel Appenzell Innerrhoden fährt nach eigenen Angaben gut mit dem Modell Französisch ab der 7. Klasse. Was ist, wenn Ihr Kalkül der Drohkulisse nicht aufgeht und die Kantone stur bleiben? 
Wenn man eine Diskussion beginnt, muss man auch bereit sein, diese zu Ende zu führen. Aber ich bin überzeugt, dass wir noch eine Chance haben: Die Kantone können eine Lösung finden. Das ist das Ziel.

Hätten Sie den Mut, einzugreifen?
Ich hätte keine Angst vor einem solchen Schritt. Der Bundesrat möchte die Diskussion so unaufgeregt wie möglich führen. Um die Sprachendebatte kommen wir ohnehin nicht herum. Auch im Parlament gab es in den letzten zwei Jahren rund ein Dutzend Vorstösse.

Sie sehen sich als Moderator der Sprachendebatte. Im Thurgau haben Sie mit Ihrer Drohung das Gegenteil erreicht. Die Fronten haben sich verhärtet. 
Was wäre die Alternative gewesen? Schweigen? Laisser-faire?

Das fragen wir Sie.
Es gibt schlicht keine Alternative.


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