18. Juli 2016

Sprachaustauschprogramme noch wenig entwickelt

Jeder Schüler absolviert ein Semester jenseits der Sprachgrenze: Das wäre eine sympathische Vision. Doch es gibt viele praktische Hürden.
Keine Abkehr vom Trockenschwimmen beim Spracherwerb, NZZ, 18.7. von Hansueli Schöchli
«Trockenschwimmen ist lächerlich.» Denn «wer schwimmen will, muss ins Wasser». Dieser Botschaft auf einer bernisch-jurassischen Website kann man kaum widersprechen. Bezogen sind die Sätze auf den Spracherwerb: Das «Eintauchen» in eine fremde Sprache ist der beste Weg, um diese zu lernen. Die Schweiz hätte dank ihrer Vielsprachigkeit auf kleinem Raum enorme Chancen in dieser Richtung. Doch das Potenzial liegt grossenteils brach.

Eine Vision illustriert das Potenzial: Jeder Schüler absolviert während seiner obligatorischen Schulzeit ein Semester jenseits der Sprachgrenze. Die Schüler, so lässt sich hoffen, wären langfristig mit guten Kenntnissen einer zweiten Landessprache «imprägniert» – vom Wachstum der Persönlichkeit und des Kulturverständnisses ganz abgesehen. Die vergleichsweise unbedeutende Frage, ob die Schüler ein paar Jahre früher oder später mit einigen Wochenstunden Unterricht zu einer ersten bzw. zweiten Fremdsprache beginnen sollen, würde zum Detail degradiert.

Kurz- statt langfristig
Doch die Schweiz bzw. die Kantone haben noch nicht einmal angefangen, in diese Richtung zu denken. Es gibt zwar den Schüleraustausch über die Sprachgrenzen, und die Kantone wollen diesen zahlenmässig ausbauen. Doch der Schwerpunkt (etwa im Rahmen der von den Kantonen getragenen «ch»-Stiftung bzw. der geplanten Nachfolgeorganisation) liegt im kurzfristigen Austausch von einigen Tagen bis zwei Wochen. Solche Programme sind eine gute Sache, doch man darf laut Beteiligten sprachlich und kulturell nicht allzu viel davon erwarten; im besten Fall bekommen die Schüler Lust auf mehr.

Es gibt vor allem auf Stufe Gymnasium gewisse Schulpartnerschaften mit längerfristigem Austausch. Früher setzt der Kanton Freiburg an: Schüler können nach Beendigung der obligatorischen Schulzeit und vor dem Beginn von Lehre oder Gymnasium quasi ihr vorangegangenes Schuljahr in einem anderen Sprachraum wiederholen. Laut Projektkoordinator Bernard Dillon machen pro Jahr rund 200 Schüler mit. Die Erfahrungen seien positiv, doch wissenschaftliche Evaluationen gebe es bis jetzt nicht. Der kantonalbernische Austauschkoordinator Thomas Raaflaub verweist derweil auf ein Minimalprogramm mit einem Austauschjahr von jährlich etwa einem Dutzend Schülern einiger Gemeinden: Diese Schüler «kommen praktisch bilingue zurück».

Die «ch»-Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit erhält zuweilen Anfragen von Eltern über einen längerfristigen Austausch während der obligatorischen Schulzeit. Jährlich machen etwa zehn Schüler ein solches Fremdsprachenjahr. Für die Schüler sei dies eine «sehr gute Erfahrung», doch das Aufgleisen sei «mühsam», heisst es bei der Stiftung. Die Kosten, der Widerstand der Schulen und das Finden von Gastfamilien gelten als typische Hürden. Diese Faktoren geben auch Hinweise zu den Fragen, weshalb in der Schweiz ein Fremdsprachensemester während der obligatorischen Schulzeit nicht schon seit Jahrzehnten zum Standard gehört.

Zu den meistgenannten Hindernissen zählen die Finanzen, die Schulen (wie holen die Schüler Verpasstes wieder auf?), das Alter (manche 15-Jährige mögen dafür noch «zu jung» sein), Akzeptanzprobleme bei den Eltern und ein Mangel an Gastfamilien. Hinzu kommt das Massenproblem: Würden die meisten Schüler mitmachen, gäbe dies jährlich vielleicht etwa 80 000 Teilnehmer. Das würde das Eintauchen in die fremde Sprache und Kultur erschweren. Zudem würden einer grossen Gruppe von Deutschschweizer Schülern weit kleinere Gruppen aus der lateinischen Schweiz gegenüberstehen.

Der Zeit voraus
So fehlt es nicht an Argumenten, warum «es nicht geht». Das müsste aber kein Grund sein, nicht verstärkt in diese Richtung zu denken und zu experimentieren. Verschiedenste Zwischenvarianten sind denkbar: etwa zwei Monate mit Sommer-Vorbereitungskurs statt ein ganzes Semester, 10 Prozent statt 100 Prozent aller Schüler als Zielwert oder Lehreraustausch statt Schüleraustausch.

Man werde in Zukunft vermehrt in diese Richtung diskutieren, doch das Thema sei der Zeit voraus, resümiert der Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann, Präsident der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren. Von einem Fremdsprachensemester könne man sich bei guter Integration der Schüler sehr viel versprechen, sagt Sybille Heinzmann von der Pädagogischen Hochschule Luzern. In der Tendenz gelte «je länger, desto besser». Wissenschaftliche Studien zum längerfristigen Schüleraustausch in der Volksschule gibt es in der Schweiz aber nicht, wie Stefan Denzler von der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung betont. Die mutmasslichen Hauptgründe: Es gibt bis anhin zu wenige längerfristige Austauschprogramme, und die Politik drängt nicht in diese Richtung. Im Vordergrund steht noch immer das Trockenschwimmen.

1 Kommentar:

  1. Im Bericht wird die "CH-Stiftung" als Organisatorin von Austauschprogrammen erwähnt. Eine Studie hat festgestellt, dass 87 Prozent der finanziellen Mittel in der Verwaltung versickern.
    http://schuleschweiz.blogspot.ch/2016/02/zuviel-burokratie-jetzt-handelt-der-bund.html

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