4. Juli 2016

"Lehrplan 21 ist Resultat von Übereifer"

Mit dem Lehrplan 21 soll der Unterricht in der Deutschschweiz einheitlich werden. Bildungsforscher Rudolf Künzli erklärt, wie es zu so vielen Volksinitiativen dagegen kommen konnte.

"Der Lehrplan 21 ist das Resultat von Übereifer", Tages Anzeiger, 4.7. von Anja Burri


Warum gibt es in so vielen Kantonen derart hartnäckige Lehrplangegner?­
Der Lehrplan 21 überfordert viele: Lehrpersonen, Politiker, Eltern.
Wie kommen Sie darauf?
Der Lehrplan 21 ist Hunderte Seiten dick und gibt den Lehrpersonen im Detail vor, welche Kompetenzen sie mit den Schülern erarbeiten sollen. Dieses umfassende didaktische Regelwerk eignet sich nicht als Objekt einer öffentlichen Diskussion. Es ist nicht sinnvoll, Kompetenzen und Kompetenzmodelle in der politischen Arena klären zu wollen. Gleichzeitig steht der Lehrplan 21 aber auch für ein neues Verständnis von Schule und Unterricht. Die Frage, was zum Bildungsauftrag der Schule gehört, ist hingegen wichtig. Man sollte sie nicht einer Gruppe pädagogischer Fachleute überlassen. Sie muss öffentlich diskutiert werden.
Darum haben die Deutschschweizer Erziehungsdirektoren auch eine öffentliche Konsultation organisiert, bei der sich alle äussern konnten.
Ja, aber der Lehrplan 21 in seiner heutigen Form eignet sich eben nicht für eine breite öffentliche Diskussion. Vor lauter didaktischen Details sieht man die grossen Linien nicht mehr. Dabei ist genau dies das Bedürfnis: die grossen Linien der künftigen Schule zu diskutieren. Welche Fächer braucht es? Wie stark muss sich die Schule zum Beispiel dem Medienwandel anpassen? Wollen wir die Lerninhalte verbindlich vorgeben oder eben das angewandte Wissen, die Kompetenzen, in den Fokus stellen? Wie weit geht der Erziehungsauftrag der Schule?
Die Lehrplanmacher sind aber auf Kritik eingegangen und haben den Lehrplan 21 entschlackt.
Genau dieses Zurückbuchstabieren mitten im Prozess war nicht gut. Es hat die Kritiker in ihren Zweifeln bestätigt. Als die Lehrplan-Verantwortlichen merkten, dass sie zu viel in den Lehrplan ­hineingepackt hatten, begannen sie, dessen Bedeutung kleinzureden. Plötzlich hiess es, der Lehrplan 21 verändere gar nicht viel und gebe nur Leitplanken vor. Diese Kommunikation – in Kombination mit der Geheimhaltung vor der Konsultation – macht misstrauisch.
Was hätte man sonst tun sollen?
Die Verantwortlichen hätten den unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung tragen müssen: Es braucht eine öffentliche Debatte über das Verständnis von Schule und ihres Bildungsauftrags. Danach muss dieser Auftrag in einem professionellen Diskurs umgesetzt werden.
Wie hätten sie diese Debatten voneinander trennen wollen?
Für die öffentliche Debatte hätte ein schlanker Bildungsplan genügt, der die Frage beantwortet: Wo soll unsere Schule hin, und was sollen Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit können? Dieser Bildungsplan hätte dann den Experten, Lehrpersonen und Schul­leitern als Basis dienen können. Der Lehrplan 21 mischt sich sehr stark ein, er beschreibt einzelne Unterrichtsziele statt die Schulstrukturen. Er ist das Resultat eines politischen und didaktischen Übereifers. Man hat zu viel gewollt.
Wo konkret stellen Sie diesen Übereifer fest?
Der politische Übereifer bestand darin, dass man die Schulsysteme harmonisieren wollte, indem man messbare und vergleichbare Lernergebnisse formulierte. Der didaktische Übereifer glaubt, kulturell etablierte Disziplinen und Wissensordnungen neu definieren zu können.
Das müssen Sie erklären.
Ein Beispiel ist die Idee, Fächer wie Physik, Chemie und Biologie unter dem Titel Natur und Technik zusammenzufassen. Für die unteren Schulstufen mag dies gut sein und ist dort ja auch Tradition. Doch je höher die Schulstufe, desto stärker müssen diese Fächer einzeln behandelt werden. Die Schüler müssen an die Welt, auch an eine wissenschaftliche Sicht der Welt, herangeführt werden. Diese ist nun mal nach Disziplinen wie eben Physik oder Chemie aufgeteilt.
Sie sprechen wie ein Lehrplangegner.
Nein, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Der Lehrplan 21 verfolgt ein Ziel, das ich gutheisse: die Harmonisierung der Lernziele in den Kantonen. Und da hat sich seit der Annahme des Bildungsartikels durch das Stimmvolk und der Beschlüsse zum Schulharmonisierungskonkordat Harmos einiges getan.
Nämlich?
Die Erziehungsdirektoren haben viel erreicht: Die Schulstufen wurden einander angeglichen, der Schulbeginn harmonisiert, und man hat gemeinsame Grundkompetenzen für die Schulsprache, die erste Fremdsprache, Mathematik und Naturwissenschaften definiert, welche die Schüler erreichen sollen. Der Lehrplan 21 hat dazu beigetragen, dass die Bildungsfachleute über die Kantonsgrenzen hinweg enger zusammenarbeiteten. Das ist wertvoll und nicht zu unterschätzen.
Die Debatte über den Lehrplan 21 und den Fremdsprachenunterricht ist geprägt von grossem Misstrauen zwischen den Gegnern. Wie konnte es so weit kommen?
Die Schule hat sich stark verändert und besteht längst nicht mehr bloss aus einer Lehrkraft und den Schülern. Die Schul­administration ist auf allen Ebenen, in den Schulhäusern, den Gemeinden, Kantonen und auf Bundesebene der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) stark gewachsen. Zum Beispiel gibt es professionelle Schulleiter oder ganze Abteilungen in den Erziehungs­direktionen, die Reformen aufgleisen. Die Universitäten und neu auch die Pädagogischen Hochschulen haben stark an Einfluss auf die Schulen gewonnen. Je stärker und professioneller diese Schuladministration wird, desto schwächer werden die Verankerung der Schule in der Gesellschaft und die Stellung der Lehrerschaft. Darin sehe ich den eigentlichen Grund für den politischen Widerstand gegen den Lehrplan 21.
Was ist zu tun?
Die Herausforderung für die EDK ist es, die Verankerung der Schule in der Gesellschaft zu fördern und das vielfach verlorene Vertrauen zwischen den verschiedenen Ebenen unseres Schulsystems wieder zu gewinnen. Hilfreich wäre auch eine offizielle, gesellschaftsweit diskutierbare kleine Schrift über die Grundlagen und Perspektiven des Schul- und Bildungswesens.
Dafür wird derzeit in vielen Kantonen intensiv über die Schule diskutiert. Ist das nicht positiv?
Die Lehrpläne vors Volk oder vor die Parlamente zu zerren, ist nicht zielführend. Der Streit zum Beispiel im Kanton Baselland hat dazu geführt, dass der Lehrplan 21 so gestutzt wird, dass der Harmonisierungsgedanke Schaden nimmt. In zahlreichen weiteren Kantonen stehen nun Abstimmungen an – über den Lehrplan selbst oder über die Fremdsprachenfrage. Dort überall ist die Harmonisierung in Gefahr.
Die Fremdsprachenfrage wird aber von den Lehrplanmachern bewusst nicht beantwortet.
Das ist es ja: Einerseits bestimmt der Lehrplan die Ziele des Unterrichts messbar genau, andererseits klammert er extrem wichtige Fragen der Schulharmonisierung – etwa zum Fremdsprachenunterricht – aus. So gibt es einige Kantone wie Thurgau, Appenzell Innerrhoden oder Uri, die sich nicht einmal an den Fremdsprachenkompromiss der EDK halten wollen. Deshalb werden wir nach Abschluss aller kantonalen Abstimmungen eine neue Schuldebatte brauchen. Losgelöst vom Lehrplan 21. 

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