10. Juli 2016

Im Spannungsverhältnis von Wissen und Werten

Jahrelang gingen Deutschlands Kuschel-Pädagogen mit dem angeblich erfolgreichen finnischen Vorbild hausieren. Jetzt stellt sich heraus: Alles Propaganda und missverstandene Statistik.
Welches System liefert die meisten Geistesblitze? Bild: Getty Images
Schluss mit dem finnischen Eiapopeia in der Schule! Die Welt, 8.7. von Alan Posener
Wir wissen, dass Lehrer und Lehrerinnen nicht nur Wissens- sondern auch Wertevermittler sind; nicht nur Unterrichtende, sondern auch Erziehende. Und was für die einzelne Lehrerin in der Klasse gilt, das gilt auch für die einzelne Schule, für verschiedene Schulformen und das Schulwesen insgesamt.

Die Erfahrung zeigt, dass Unterricht und Erziehung, Wissen und Werte immer wieder miteinander in Konflikt geraten. Die lehrerzentrierte Paukschule ist erfolgreich bei der Wissensvermittlung; die schülerorientierte, demokratische Schule tut sich damit schwerer.

Es gibt außerdem einen "Trade-off" zwischen Wissensvermittlung und Persönlichkeitsbildung. Musik, Theater, Kunst, Werken und Sport, Schülerselbstverwaltung, Ausflüge und dergleichen sind entscheidend für die Persönlichkeitsbildung; die dafür vergebenen Stunden fehlen für die "harten" Lernfächer Fremdsprachen, Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist zwar kein Nullsummenspiel: Wer im Werkunterricht etwa Geduld und Ausdauer geschult hat, kann das vielleicht auch auf das Pauken von Vokabeln anwenden. Aber im "Vielleicht" steckt das pädagogische Wagnis.

Überdies ist der "heimliche Lehrplan" mindestens so wichtig für das Leben wie der offizielle. Man kann noch so viel über die Demokratie und ihre Werte im Unterricht lernen: Wenn die Struktur der Schule oder der Charakter der Lehrer beweisen, dass Duckmäusertum belohnt, Mut aber sanktioniert wird, so bleibt das im Unterricht Gelernte toter Buchstabe. Umgekehrt gilt aber auch: Wenn Freiheit in Chaos ausartet und die Erziehenden sich scheuen, schlechtes Benehmen zu ahnden, so lehrt die Schule auf diese Weise Demokratieverachtung.

Und schließlich passt nicht jede Schule für jeden Schüler. Theodor Fontane lobte seine schlampige Schule, die nicht den "preußischen Patent- und Schablonenmenschen" züchtete und auch ihm den Abschluss ermöglichte. Die Reformschule erwies sich als Segen für begabte bürgerliche Schüler, denen das Lernen leicht fiel, die aber an der stickigen Atmosphäre wilhelminischer Lehranstalten litten. Als aber in den 70er-Jahren Elemente der Reformpädagogik in die allgemeinen Schulen einzogen, vermissten viele Schüler aus "bildungsfernen" Familien den festen Rahmen, der ihnen Halt gab.

Kuschelpädagogik contra "schwarze" Lehre
Ideologen verneinen diese Widersprüche. Anhänger der schülerorientierten Pädagogik – ob Reformpädagogen oder Befürworter der Gesamtschule – meinen, ein nicht autoritäres, demokratisches Lernumfeld, das die Lust am Lernen fördere und die Differenz im Leistungsniveau nicht als Lernhindernis, sondern als Chance begreife, sei effektiver als die Auslese- und Druckmittel der "schwarzen Pädagogik".

Kritiker dieser "Kuschel- und Spaßpädagogik" – ob Anhänger des alten Gymnasiums westlicher oder der Erweiterten Oberschule östlicher Prägung – meinen, auch das Pauken von Lateinvokabeln oder Chemieformeln bilde den Charakter. Disziplin sei der Schlüssel zum Lernen, Lernen der Schlüssel zum Erfolg.

Für beide Positionen lieferten die Pisa-Ergebnisse Anfang des Jahrtausends Belege. Die Kritiker der Gesamtschule und der Reformpädagogik wiesen darauf hin, dass innerhalb Deutschlands die Länder, die das herkömmliche System beibehalten hatten und auf Fleiß, Disziplin und Ordnung setzten, bei der Lesekompetenz und der mathematischen Bildung bessere Ergebnisse erzielten als jene Länder, die, wie Berlin, Bremen oder Nordrhein-Westfalen, auf Reformen gesetzt hatten.

Das scheinbar schülerfreundliche Gesamtschulsystem schade am Ende genau jenen, denen es helfen sollte. Denn anders als Schüler aus bürgerlichen Familien können Kinder aus Zuwanderer- und Prekariatsverhältnissen das in der Schule Versäumte nicht anderswo wettmachen.

Irrlehren der "Reformer"
Die in die Defensive geratenen Anhänger der "Kuschelpädagogik" verwiesen ihrerseits auf Finnland. Dort gab es Gesamtschulen und gemeinsames Lernen. Vergleichende Leistungskontrollen waren ebenso verpönt wie Frontalunterricht und Pauken – und Finnland hatte alle anderen Länder Europas bei den Pisa-Tests hinter sich gelassen.

Man müsse Gesamtschule und Reformpädagogik also nur richtig machen, nämlich konsequent, und nur ausreichend finanzieren, dann würden sie auch gute Lernergebnisse bringen, und zwar bessere als das herkömmliche System.

Man glaubte das, weil man es glauben wollte, und weil es evident erschien. Die Evidenz der guten Pisa-Ergebnisse aus Bayern, Baden-Württemberg oder Sachsen nahm man nicht zur Kenntnis, weil man es nicht glauben wollte.

Nun hat sich dieser Glaube als Illusion erwiesen. Seit Jahren rutscht Finnland bei den Pisa-Ergebnissen ab. Eine neue Studie kommt zum Ergebnis, dass die guten Ergebnisse Finnlands Anfang des Jahrtausends vor allem den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Schulsystem in den Jahren vor Einführung jener Reformen geschuldet waren, die vor allem von linken Pädagogen hierzulande so bewundert wurden.

Finnland sei eine homogene, stark bäuerlich geprägte, industriell und gesellschaftlich zurückgebliebene Gesellschaft gewesen, in der Lehrer besondere Achtung genossen und einen durchaus autoritären Bildungsstil gepflegt hätten. In dem Maße, wie Finnland sich modernisiert habe und die im Zuge dieser Modernisierung durchgeführten Bildungsreformen gegriffen hätten, so der Bildungsökonom Gabriel Heller Sahlgren, sei auch die Leistung der finnischen Schüler gesunken.

Das Klima ist entscheidend
Konservative Ideologen, die sich durch diese Studie bestätigt fühlen dürfen, sollten sie allerdings zu Ende lesen. Sahlgren rät nämlich zur Vorsicht: Mit Rekurs auf Sigmund Freuds Schrift über das "Unbehagen in der Kultur" meint er, dass ein autoritärer Erziehungsstil dieses Unbehagen vermutlich steigere. Tatsächlich geht der Rückgang der Leistung finnischer Schüler mit einem verbesserten Schulklima einher. Sahlgren verweist auch auf Studien, die einen kooperativen Unterrichtsstil mit einem verbesserten Human- und Sozialkapital in Verbindung bringen. Mit anderen Worten: Pisa misst nicht unbedingt das, was für eine Gesellschaft wichtig ist.

Das wiederum ist eine politische Frage. Die Vereinigten Staaten von Amerika entschieden sich für die Gesamtschule als Regelschule und gegen das englische Modell des gegliederten Schulwesens, weil die Gleichheit wichtiger war als die Leistung. Bis heute bleiben die öffentlichen amerikanische Schulen – auch – deshalb akademisch gegenüber deutschen Gymnasien zurück, wie jede Austauschschülerin bestätigen kann. Die Frage also, was im öffentlichen und heimlichen Lehrplan gelernt werden soll und gelernt wird, muss nach wie vor gestellt werden.

Einiges spricht dafür, dass wir in Deutschland nach wie vor zu wenig auf die Entwicklung von Persönlichkeiten, Charakteren und Fähigkeiten und zu sehr auf das Vermitteln von Wissen setzen – Wissen, das schneller veraltet als je zuvor. Kritiker der Pisa-Studie – von links und rechts – hatten das schon vor zehn Jahren moniert. Wie man sich auch immer entscheidet: Das Beispiel Finnland zeigt, dass jede Entscheidung auch ihren Preis hat.

Man kann nicht, wie das englische Sprichwort sagt, seinen Kuchen zugleich besitzen und aufessen wollen. Wissen und Werte, Erziehung und Unterricht, Gleichheit und Exzellenz, akademisches, emotionales, soziales und praktisches Lernen stehen in einem Spannungsverhältnis zueinander, das nicht einfach mit Hinweis auf ein nordisches Eiapopeia aufzulösen ist. Gut so. Jetzt kann die Diskussion ernsthafter werden.


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