16. Juli 2016

"Finanzierung von Tablets problemlos"

Sollten Schulen auf Tablets setzen? Wer soll die bezahlen? Lehrer und Medienexperte Philippe Wampfler über Nutzen und Gefahren.
Tablet: Mehr Lern- oder Spielgerät? Bild Tages Anzeiger
"An der Wandtafel geben sich alle Mühe", Tages Anzeiger, 13.7. von Philippe Zweifel

Tablet-Unterricht ist international auf dem Vormarsch. Wie verbreitet ist er an Schweizer Schulen?
An vielen Schulen werden und wurden Computerräume zugunsten von Laptop- und zunehmend auch Tablet-Wagen aufgelöst. Die Schulen haben dann wenige Sätze von Tablets, die in verschiedenen Klassen eingesetzt werden. Das zweite Modell sind dezidierte Laptop- oder eben Tablet-Klassen, die mit einheitlichen Geräten ausgerüstet werden. Hier gibt es einige Versuchsklassen. Sehr verbreitet ist dieses Modell nicht, weil es an Lehrkräfte wie auch an Gemeindefinanzen hohe Anforderungen stellt. Das dritte Modell ist BYOD («Bring your own device»): Schülerinnen und Schüler bringen ihre eigenen Geräte mit in die Schule bzw. schaffen für die schulische Arbeit Tablets an. Das Modell setzt sich an Gymnasien langsam durch und wird wohl in zehn Jahren Standard sein. An Volksschulen sind die Bedenken in Bezug auf die Finanzierbarkeit und auch die Ablenkung zu gross.


Ab welcher Stufe sind Tablets überhaupt sinnvoll?
Der Einsatz von Tablets ist ab dem Kindergarten sinnvoll zu gestalten. Allerdings braucht es dazu viele didaktische Erwägungen und Fingerspitzengefühl. Probleme wie Ineffizienz und grosse Ablenkungen tauchen meines Erachtens auch deshalb auf, weil Tablets als Unterhaltungsgeräte gesehen werden und ihr schulischer Einsatz erst sehr spät erfolgt. Lernende und Lehrende würden davon profitieren, wenn auch schon in der Primarschule mit Tablets gestaltet und geübt würde. Gerade die Möglichkeit, mit Software individuell erfolgreich arbeiten zu können, darf nicht unterschätzt werden.
Tablets kommen dem Lehrplan 21 entgegen – dort wird Medienkompetenz grossgeschrieben. Doch welchen pädagogischen Nutzen haben sie?
Übungssequenzen können mit Gamifizierung, also spielerischen Elementen, individuell und motivierend gestaltet werden. Das zeigt schon die Software, die beispielsweise Schülern an Zürcher Schulen begleitend zur Verfügung gestellt wird. Tablets ermöglichen einen niederschwelligen Einsatz: Sie sind schnell gestartet und können als Begleitung zu anderen Lernmaterialien eingesetzt werden. Zudem sind neue Geräte auch mit Gesten und Handschrift bedienbar: Das eröffnet viele kreative Möglichkeiten, zusammen mit den audiovisuellen Möglichkeiten. Das ist bei Computern nicht der Fall.


Für was werden die Tablets genau eingesetzt?
Ein tolles Beispiel ist ein Buchstabenportfolio: Das machen Kinder, wenn sie die Buchstaben lernen. Sie suchen nach Wörtern mit diesen Buchstaben und sammeln sie, um sie anderen vorzustellen. Mit Tablets können sie solche Wörter fotografieren und aufnehmen und ihre Sammlungen auch publizieren. Das geht mit einem Heft nicht. Ältere Kinder lernen mithilfe von Lernsoftware, die ihre eigenen Stärken fördert und ihnen Hinweise geben kann, wo und wie sie sich verbessern können. Nehmen Sie z. B. Dragonbox: Das ist eine App, mit der Gleichungen schon für sehr junge Lernende visualisiert und spielerisch erfasst werden. Hinter diesen Programmen stehen differenzierte didaktische Überlegungen. Dieses Know-how kommt ohne viel Aufwand in jedes Klassenzimmer. Das Ziel ist letztlich aber die Vernetzung und die Reflexion: Gemeinsam Probleme zu bearbeiten und darüber nachzudenken, wie Lösungen aussehen sollten. Das ist die Schlüsselkompetenz. Tablets sind dabei ein Werkzeug, das einiges vereinfachen kann.


Was ist vom Konzept des «Flipped Classroom» zu halten, dem Tablets ja entgegenkommen.
Der Flipped Classroom kehrt das Verhältnis von Üben und Lernen um. Gelernt wird individuell zu Hause, etwa mit Lernvideos oder in digitalen Lernumgebungen. Betreute Übungen, Austausch und Coaching finden in der Schule statt. Das ist für Kinder teilweise sinnvoll, aber nur in Massen. Hausaufgaben sind unter Fachleuten sehr umstritten – sie vergrössern schon bestehende Unterschiede und führen zu grossen psychologischen Belastungen in Familien. Sie zu vergrössern, ist deshalb problematisch. Andererseits ist die Individualisierung von Instruktionen ein wichtiges Konzept: Es hilft dabei, unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten parallel laufen zu lassen.


Gibt es beim Einsatz von iPads auch pädagogische Bedenken/Nachteile? Bzw. gibt es etwas, das die gute alte Wandtafel und der Frontalunterricht besser ermöglichen?
Ganz wichtig ist etwas, was ich «pädagogische Ernsthaftigkeit» nennen würde: Die Beziehung zwischen Schülern und Lehrkräften sollte geprägt sein vom Bewusstsein, dass Lernen etwas Wichtiges ist und sich die Erwachsenen dafür einsetzen und interessiert sind an den Fortschritten der Kinder und Jugendlichen. In der Arbeit mit Tablets ist das auch möglich, gerade, wenn sie Stärken und Interessen aufnehmen – aber es kann auch zu einer gewissen Gleichgültigkeit kommen, die beim Frontalunterricht weniger möglich ist. An der Wandtafel geben sich alle Mühe. Ein schönes Tafelbild kann vom Beziehungsaspekt her nicht durch ein perfektes Lernvideo ersetzt werden.


Sind Tablets keine Ablenkungsquelle?
Das kommt auf die Übung und Selbstdisziplin an. Man muss lernen, mit Tablets zu arbeiten. Strahlt die Schule die Überzeugung aus, dass Tablets zur oberflächlichen Unterhaltung dienen, schnappen Kinder diese Botschaft sicher auf. Wird damit konzentriert gelernt, ist es möglich, die eigene Konzentration zu schulen.


Sollten Schüler die Tablets nach Hause nehmen dürfen? Droht da keine Game- oder Surfgefahr?Untersuchungen zeigen, dass die Synergien zwischen privater und schulischer Nutzung (man spricht auch von informellem und formellem Lernen) sehr gross sind. Das spricht dafür, dass Kinder die Geräte mit nach Hause nehmen. Eltern sind dadurch sicher mehr gefordert, sie müssen sich unter Umständen früher mit Fragen auseinandersetzen, die sie lieber aufschieben möchten. Aber letztlich ist das für mich eine Scheindebatte: Vor 200 Jahren war die Lesesucht ein Problem, weil Romane plötzlich für alle zugänglich waren. Die meisten Kinder, Jugendlichen und Eltern finden gute Lösungen und spüren, was ihnen guttut. Und die anderen brauchen in jedem medialen Umfeld Aufmerksamkeit und Begleitung.

Stichwort Game-Gefahr: Droht die auf dem Pausenplatz?
Da müssen Schulen heute schon Lösungen finden. Wenn sie es schaffen, dass die Handys weggelegt sind, dann geht das auch mit Tablets. Andererseits sind mobile Geräte Kulturzugangsgeräte: Gamen ist eine Form kulturellen Austauschs, Games sind für Kinder und Jugendliche digitale Literatur. Hier muss ein Umdenken stattfinden. Gamen ist nicht per se gefährlich, sondern eine sinnvolle Tätigkeit.


Wer soll die Tablets bezahlen? Eltern oder Schule?Die Volksschule muss kostenlos bleiben. Hefte und Bücher werden heute auch gekauft, warum also nicht digitale Lernmaterialien? Würden die Kantone Tablets systematisch einkaufen, dann wären sie Grosskunden, die sehr attraktive Preise bekämen. Eine 1-zu-1-Ausstattung ist in der Schweiz problemlos finanzierbar.

Für viele Kinder gehören Tablets und Smartphones zum Alltag. Aber können alle Lehrer mithalten?
Sie sollten zumindest ein Interesse und Verständnis dafür entwickeln, was Kinder an den Geräten fasziniert. Lehrpersonen müssen nicht «Pokémon Go» spielen – aber ein Gespräch darüber in der Klasse kompetent moderieren können. Nun ist es ja nicht so, dass Lehrkräfte nicht selbst auch kompetent mit Medien umgehen. Schwieriger wird es, wenn sich ihre Rolle verändert: Didaktik bedeutet heute nicht mehr, Wissen zu vermitteln, sondern Kinder nicht alleine zu lassen beim Umgang mit ihrer Wissensarbeit. 


3 Kommentare:

  1. Wer sich mehr über den Nutzen von Tablets informieren möchte, sollte dieses Interview von Prof. Manfred Spitzer ansehen.

    https://www.youtube.com/watch?v=QXZeKelECU

    Weitere Literatur zum Thema: Digitale Demenz (Manfred Spitzer)

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  2. In seinem Buch "Digitale Demenz" wendet sich Prof. Manfred Spitzer vehement gegen Initiativen von Politik und Industrie, „alle Schüler mit Notebooks auszustatten und die Computerspiel-Pädagogik zu fördern“. Diese Initiativen zeugten entweder von blankem Unwissen oder skrupellosen kommerziellen Interessen. Denn zahlreiche wissenschaftliche Studien stellten den digitalen Medien als Lernmittel ein miserables Zeugnis aus. Soziale Online-Netzwerke lockten mit virtuellen Freundschaften, doch in Wirklichkeit beeinträchtigten sie das Sozialverhalten und förderten Depressionen. Cyberkrank!

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  3. In seinem Artikel "Die Angst vor dem selbstorganisierten Lernen" (SOL) outet sich Wampfler als SOL-Anhänger. Das passt gut zusammen: Die sich selbst überlassenen, allein lernenden Schüler (ab Kindergarten!) alle mit Tablets auszurüsten ist sicher ein gutes Geschäft, jetzt wo der Tabletverkauf in den USA stagniert.

    https://schulesocialmedia.com/2016/06/07/die-angst-vor-dem-selbstorganisierten-lernen/

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