29. Juli 2016

Falschanschuldigungen

Eine fatale falsche Anschuldigung wegen sexueller Übergriffe, eine in Panik geratene Schulbehörde und eine jahrelang verschleppte Strafuntersuchung haben einen Lehrer aus dem Kanton Zug die Existenz gekostet. Da weiss auch das Bundesgericht nicht mehr weiter.
Das zerstörte Leben eines Lehrers, Weltwoche 19/2016 von Alex Baur
         
Sekundarlehrer Franz Iten (Name geändert) war im August 2009 eben aus den Sommerferien zurückgekehrt, als ihn die Kantonspolizei Zug zu Hause verhaftete. Der Vorwurf traf den tadellos beleumdeten Mittfünfziger wie ein Blitz aus heiterem Himmel: Während zweier Jahre solle er eine inzwischen sechzehnjährige Schülerin im Klassenzimmer wöchentlich sexuell missbraucht und sogar vergewaltigt haben. Dies behauptete zumindest die Mutter des Mädchens, welche die Anzeige erstattet hatte.Nach einer Woche wurde Iten zwar aus der Untersuchungshaft entlassen. Doch das war nur der Anfang ­eines kafkaesken Albtraums, der bis heute andauert. Aufgrund des Verdachtes stellte die Schulbehörde den Lehrer sofort frei, auf Ende 2009 wurde er entlassen. Vier unendlich lange Jahre gingen ins Land, bis die Zuger Staatsanwaltschaft den Fall endlich vor Gericht brachte.

Im Oktober 2013 entlastete das Zuger Strafgericht den Lehrer ohne Wenn und Aber in ­allen Punkten. Selbst die Staatsanwaltschaft hatte am Ende einen Freispruch gefordert. Doch die Vorverurteilung und das schleppende Verfahren hatten Iten aus der Bahn geworfen. Er konnte nie mehr richtig Tritt fassen und fristet heute das Dasein eines gesundheitlich angeschlagenen Frühpensionärs, der sich mit Gelegenheitsjobs über die Runden bringt. Die Tragödie um Lehrer Iten ist kein Einzelfall, sie ist geradezu klassisch, in mehrfacher Hinsicht. Zum einen lässt sich die Entstehung der fatalen Falschanschuldigung präzise rekonstruieren. Im Zentrum steht eine übereifrige und unfähige Therapeutin, welche die Schülerin in einem anderen Zusammenhang betreute. Durch suggestive Fragen beschwor die Seelenklempnerin die vermeintlich verdrängten Übergriffe herauf, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hatten. Das Phänomen ist als «false memory syndrome» hinlänglich bekannt und hat schon viel Unheil angerichtet.

Geld gibt es trotzdem keines

Dass die an-therapierte Missbrauchsfantasie überhaupt als solche erkannt wurde, war einem Missgeschick der Privatklägerin zu verdanken. Um die Vorwürfe zu untermauern, reichte sie ­einen ausführlichen Therapiebericht zu den ­Akten. Die Verteidigerin liess diesen Bericht von zwei Experten begutachten. Das Resultat war vernichtend für die Therapeutin: «Offensichtlich hat sie nicht die geringste Ahnung von ­Gedächtnispsychologie und Suggestionsforschung.» Die Privatgutachten brachten zwar noch nicht den Durchbruch. Dank ihnen konnte der Lehrer aber – gegen den erbitterten Widerstand der Staatsanwaltschaft notabene – auf gerichtlichem Weg eine Oberexpertise erzwingen.
Nachdem auch der Obergutachter zum klaren Schluss kam, dass die «bekundeten sexuellen Übergriffe nicht erlebnisbegründet» seien und auf 
suggerierten «Pseudoerinnerungen» beruhten, wollte die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellen. Doch nun legte sich das Zuger Obergericht quer. Auch das ist typisch. Bei Sexualstraffällen hat sich in der Praxis eine Art Umkehr der Beweislast eingeschlichen: Es liegt am Verdächtigten, seine Unschuld zu beweisen, im Zweifel wird angeklagt.

Dabei muten die Anschuldigungen, die im Verlauf des Verfahrens immer dramatischer wurden, abenteuerlich an und mussten Misstrauen wecken. Wie ist es möglich, dass kein Mensch die vermeintlichen Übergriffe im von aussen gut einsehbaren Klassenzimmer bemerkte? Warum sollte das keineswegs schüchterne und in sexuellen Dingen erfahrene Mädchen die Übergriffe verdrängt haben? Ausser der Straf­anzeige der Mutter gab es keinerlei belastende Indizien gegen den Lehrer. Bereits 2011 erkannte das Zuger Verwaltungsgericht, dass die Kündigung von Lehrer Iten nach 33 klaglosen Berufsjahren rechtsmissbräuchlich war. Die Schule musste ihm neun Monatslöhne nachzahlen. Iten liess sich damit nicht abspeisen. Anlässlich seines Freispruchs vor Gericht forderte er erfolglos mehrere hunderttausend Franken Schaden­ersatz von der Staatsanwaltschaft. Durch eine unkritische, einseitige und schleppende Verfahrensführung trug diese seiner Meinung nach die Hauptverantwortung für das Debakel.

Letzte Woche, sieben Jahre nach der Verhaftung, hat das Bundesgericht entschieden: Lehrer Iten hat zwar grundsätzlich ein Recht auf ­Wiedergutmachung, Geld gibt es trotzdem keines. Der Fehler lag nach Meinung der Richter nicht bei der Staatsanwaltschaft, sondern bei den Schulbehörden, die dem Lehrer lediglich aufgrund eines Verdachtes gekündigt hatten. Wie sich die Schule hätte verhalten müssen – hätte sie das Strafverfahren etwa einfach ignorieren oder den Verdächtigten über vier Jahre bei vollem Lohn freistellen müssen? –, liess das ­Bundesgericht indes offen. Das Bundesgericht entscheidet zum ersten Mal über eine derartige Forderung, wie dem Urteil zu entnehmen ist. Dabei sind gerade im Sexualbereich schleppende Strafverfahren, die jahrelang auf zu Unrecht Verdächtigten lasten, keine Seltenheit. Doch die Opfer von Falschanschuldigungen verzichteten bislang auf Klagen. Mit gutem Grund. Denn klar ist nach dem Urteil des Bundesgerichtes nur ­eines: Selbst wenn das Unrecht anerkannt wird, trägt niemand eine Verantwortung dafür.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen