21. Juni 2016

Warum junge Lehrer aussteigen

Junge Lehrpersonen kannten schon zu Studiumbeginn ihren Einstiegslohn. Sie erlebten den Beruf im Studium in diversen Praktika. Warum treten sie trotzdem bald wieder ab?
Nach vier Jahren haben 20 Prozent den Beruf wieder verlassen, Bild: Chris Iseli
Drang nach Freiheit: Warum viele junge Lehrer wieder aussteigen, Badener Tagblatt, 21.6. von Pascal Sigg und Sabine Kuster
Der Berner Sekundarlehrer Manuel Zingg tut in diesen Tagen viele Dinge zum vorerst letzten Mal: Lektionen vorbereiten, Prüfungen korrigieren, Zeugnisnoten bestimmen. Im Sommer wird er den Lehrberuf bloss 32-jährig verlassen. «Mir wurde bereits nach der Hälfte des Studiums klar, dass ich mir nicht vorstellen konnte, mein Leben als Lehrer zu verbringen», schaut er zurück. Er habe aber Sicherheit gewollt und Flexibilität gebraucht – vor allem für Reisen. Der Lehrberuf sei dafür perfekt gewesen mit den unzähligen Vikariatsmöglichkeiten und befristeten Lehraufträgen. Doch je länger er den Beruf ausübte,desto klarer wurde ihm: Das ist nichts für mich.
Wie Zingg geht es vielen jungen Lehrpersonen. Der Bericht über die Mobilität von Lehrpersonen, welchen das Bundesamt für Statistik (BFS) im März 2014 publizierte, warf ein Schlaglicht auf das Phänomen: Von den neu diplomierten Lehrern hatten nur vier Jahre nach Stellenantritt bereits 20 Prozent den Beruf wieder verlassen, hiess es. Die Studie war erstellt worden, um den Bedarf an Lehrern schweizweit messen zu können. «In anderen Berufen ist die Fluktuation bei den Jungen ähnlich so hoch», sagt heute Jacques Babel, Verfasser der Studie beim BFS. Aber wegen dem latenten Lehrermangel tun Austritte in dieser Branche mehr weh als andernorts.
Die meisten Gründe, warum die neuen Lehrer wieder künden, sind bekannt, allen voran die Belastung: «Vom ersten Tag an haben die Lehrpersonen die volle Verantwortung», sagt beispielsweise Elisabeth Abassi, Präsidentin des Aargauischen Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (alv). Das hat die 31-jährige Kindergärtnerin und Heilpädagogin aus Zürich, Katrin Sigg, dazu gebracht ihre erste Stelle wieder zu kündigen: «Ich lud mir zu viel Verantwortung auf», sagt sie über ihre erste Stelle nach Abschluss des Studiums. Sie hätte innovativ und fortschrittlich unterrichten wollen – so wie sie’s eben in der Ausbildung gelernt hatte. Der Berufseinstieg wurde damit aber sehr intensiv, ihr Anspruch stellte sich als vermessen heraus. Jetzt will sie herausfinden, wie sie in einem Job mit weniger Verantwortung funktioniert.
Die Verantwortung, zwar hoch am ersten Tag, bleibt aber gleich bis zum Tag der Pensionierung. Die beschränkten Karrieremöglichkeiten sind ein weiterer Grund für die Austritte. Was das genau heisst, dessen seien sich die Berufseinsteiger zuerst nicht bewusst, sagt Abassi. Zudem ist der Lehrberuf ein klassischer Frauenberuf, und Frauen geben ihren Beruf häufiger auf oder arbeiten nur noch Teilzeit, wenn sie Eltern werden.

Junge sind experimentierfreudiger

Die überwiegende Mehrzahl der Lehrpersonen, welche den Beruf verlassen, tut dies innerhalb der ersten zehn Jahre nach Studiumabschluss. Das ist wenig überraschend und hat auch nicht speziell mit dem Lehrberuf zu tun: Väter und Mütter gehen beruflich weniger Risiken ein als kinderlose Singles. Und doch scheint sich diesbezüglich in den vergangenen Jahren etwas geändert zu haben: Junge Lehrpersonen sind experimentierfreudiger und selbstbestimmter geworden.
«Man ergreift heute eher neue Chancen», sagt Daniela Freisler-Mühlemann, Leiterin des Schwerpunktprogramms «Berufsbiografien und Professionalisierung von Lehrpersonen» an der Pädagogischen Hochschule Bern, welche gegenwärtig Berufsbiografien von Lehrpersonen erforscht. Früher sei man grundsätzlich länger im selben Beruf geblieben. Heute verliefen Berufsbiografien hingegen nicht mehr nach einem einheitlichen Muster, sondern seien von Veränderungen und Neuorientierungen geprägt.
«Alles ist so eng strukturiert und man kommt in einen Trott», nennt Maryam Darvishbeigi, 31-jährige Primarlehrerin und Heilpädagogin aus Wetzikon im Zürcher Oberland, die Gründe dafür, dass sie nicht Vollzeit als Lehrerin arbeitet. «Ein grosses Pensum braucht viel Energie.» So kündigte sie ihre erste Stelle, reiste, lernte Persisch und machte Musik. Seither hat sie immer wieder als Stellvertretung und in Teilzeitpensen gearbeitet und möchte das auch in Zukunft tun. Sie sei eben interessiert an vielen anderen Dingen neben der Arbeit.

Die Freiheit als Stellvertreter

Stellvertretungen machen oder nur Teilzeit arbeiten: Das ist den jungen Lehrern aktuell problemlos möglich. Eine kürzlich veröffentlichte Analyse des Bundesamtes für Statistik zeigte, dass die Lehrpersonen von allen Hochschulabgängern am schnellsten einen Job finden. Von den 2010 an den Pädagogischen Hochschulen ausgebildeten Lehrkräften waren fünf Jahre nach dem Abschluss nur 0,5 Prozent arbeitslos. Es scheint, als bilde das Lehrdiplom gerade vor dem Hintergrund des Lehrermangels ein Sicherheitsnetz für eine freiheitsliebende Generation junger, anspruchsvoller und realistischer Lehrpersonen. Denn würden Zingg, Sigg und Darvishbeigi an ihren neuen Herausforderungen scheitern – Zingg wird im Home Security-Bereich arbeiten, Sigg als Hilfskraft in einem Gasthof, Darvishbeigi möchte sich im Asylwesen engagieren –, sie alle haben die Gewissheit: Sie könnten jederzeit zurück ins Klassenzimmer.
Damit sind sie in bester Gesellschaft: Auch Schriftsteller Peter Bichsel, Kabarettist Jürg Randegger, Radiomoderator Reeto von Gunten oder der Ex-Fussballer Ludovic Magnin waren einst Lehrer. Lehrer war schon immer ein guter Start-Beruf, um «etwas Solides in der Tasche zu haben». Lehrer, so das Argument, brauche es schliesslich immer. Diese Weisheit gilt auch in einer zunehmend digitalisierten Arbeitswelt. Einen traditionellen «Aussteigerberuf» hat es Christian Amsler, Präsident der Deutschschweizer Konferenz der Erziehungsdirektoren, einmal genannt. Man könnte auch sagen: «Das Diplom zur Freiheit».
Doch alv-Präsidentin Abassi gibt zu bedenken: «Der Lehrberuf ist bloss ein sicherer Arbeitsplatz, weil es wegen der hohen Belastung zu wenige machen wollen. Das heisst, er ist ein unattraktiver Arbeitsplatz.»


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