29. Juni 2016

Streit um Fremdsprachen ist auch Streit um Forschungsresultate

Sollen in der Primarschule weiterhin zwei Fremdsprachen unterrichtet werden? Der Sprachenstreit ist auch ein Streit umForschungsresultate.
Die Vermessung der Bildung, NZZ, 29.6. von Marc Tribelhorn

Einmal mehr wird hierzulande über die «richtige» Form des Fremdsprachenunterrichts gestritten, und zwar erbittert. «Frühenglisch» und «Frühfranzösisch» sind die Reizwörter. Werden unsere Kinder überfordert, wenn sie bereits in der Primarschule zwei Fremdsprachen lernen müssen? Und garantiert die bildungspolitische Losung «Je früher, desto besser» überhaupt einen höheren Lernerfolg? Gleich in mehreren Kantonen fordern nun Kritiker, dass die zweite Fremdsprache nicht mehr ab der 5. Klasse, sondern erst in der Oberstufe unterrichtet werden soll. Entsprechende Volksabstimmungen sind angekündigt; der Sprachenkompromiss, den die kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) 2004 mühsam ausgehandelt haben, ist in Gefahr. Damals einigte man sich darauf, in der Ostschweiz Englisch als erste Fremdsprache zu akzeptieren, erklärte aber den Unterricht einer zweiten Landessprache in der Primarschule für zwingend. Davon will der Kanton Thurgau schon jetzt nichts mehr wissen. Der Lehrplan, der im Frühling in die Vernehmlassung geschickt wurde, sieht keinen Französischunterricht in der Primarschule mehr vor.

Erboster Berset
Innenminister Alain Berset zeigte sich denn auch besorgt über diese Entwicklung und drohte im Sinne der «cohésion nationale» mit einer bundesrätlichen Intervention. Zum Ärger der EDK: Eine Einmischung des Bundes in die Sprachenfrage berge «erhebliche Risiken», heisst es in einem am Dienstag publik gewordenen Brief an Berset. Die EDK halte an ihrer Strategie von zwei Fremdsprachen in der Primarschule fest und plädiere für «Sachlichkeit und Gelassenheit». Die nötige Legitimation für ihre Politik schöpft sie nicht zuletzt aus «evidenzbasierter» Forschung: Die hehre Wissenschaft soll zeigen, ob die Bildungspolitik auf dem richtigen Weg ist.

Bund und Kantone gaben deshalb 2014 an der Universität Århus in Dänemark eine unabhängige systematische Übersichtsarbeit zum Fremdsprachenlernen in Auftrag. Internationale Experten werteten in der Folge über 7000 Publikationen aus, die für die Schweizer Fragestellungen relevant sein könnten, und kamen Ende letzten Jahres zum Schluss: Das Erlernen einer Fremdsprache begünstigt das Erlernen weiterer Fremdsprachen, und das Erlernen mehrerer Sprachen überfordert die Schüler nicht. Hingegen belegen einige Studien, die den zeitgleichen frühen Unterricht mehrerer Fremdsprachen mit einem zeitversetzten späteren verglichen, einen schnelleren Lernfortschritt älterer Schüler beim Erlernen der zweiten Fremdsprache.

Bedeutet die letzte Erkenntnis, dass es vorteilhaft wäre, wenn die zweite Fremdsprache erst in der Oberstufe gelernt würde? «Keineswegs», meint Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung: Der Befund lasse sich mit dem höheren und sprachspezifischen Wissensstand älterer Schüler erklären. «Das Review zeigt, dass es derzeit keinerlei Forschungsevidenz gibt, die eine Veränderung des Schweizer Modells nahelegen würde.»

Frühenglisch bringt nichts?
Doch auch die Kritiker der heutigen Praxis stützen sich auf Forschungsresultate. Seit Monaten machen sie Stimmung mit einer Studie der Zürcher Linguistin Simone Pfenninger, die auch in den Medien mächtig Widerhall fand: Zwischen 2008 und 2015 untersuchte sie die Englischkenntnisse von 500 Schülern zu Beginn und am Ende ihrer Gymnasialzeit. Die einen hatten schon in der Primarschule Englisch, die anderen erst in der Oberstufe. Resultat: Schon nach sechs Monaten Gymnasium hätten die meisten Frühlerner ihren Vorsprung eingebüsst, bei der Matur liessen sich sogar kaum mehr Unterschiede feststellen. Pfenningers Fazit: «Einen Langzeiteffekt von Frühenglisch gibt es nicht.» Das Schweizer Fernsehen verkürzte: «Frühenglisch bringt nichts», und die Gegner des Frühfremdsprachenunterrichts übertrugen Pfenningers Aussagen sogleich auf das ungeliebte Frühfranzösisch, was die Linguistin notabene als unzulässig bezeichnet. Die EDK musste sich zudem den Vorwurf anhören, sie ignoriere die Resultate aus politischen Gründen.

Das lässt Stefan Wolter nicht gelten. Diejenigen Aufsätze Pfenningers, welche die Experten aus Århus geprüft hätten, seien als qualitativ ungenügend eingestuft und deshalb nicht berücksichtigt worden. Hingegen seien Studien von Schweizer Forschern in das Review eingeflossen, die aber zu anderen Ergebnissen als Pfenninger kämen. «Es geht zudem nicht nur um die Frage von frühem oder spätem Spracherwerb, sondern immer auch um die Qualität des Unterrichts.» Diese Meinung teilt auch Simone Pfenninger, welche die Kritik an ihrer Arbeit scharf zurückweist. «Wir brauchen endlich eine sachliche und keine ideologische Debatte über das Thema.»


1 Kommentar:

  1. Stefan Wolter sagt: «Das Review zeigt, dass es derzeit keinerlei Forschungsevidenz gibt, die eine Veränderung des Schweizer Modells nahelegen würde.»

    1. Das Review war nicht darauf ausgerichtet, das Schweizer Modell zu überprüfen.
    2. Das Review gibt auch keine Anhaltspunkte, wonach am derzeitigen Schweizer Modell festgehalten werden müsste.

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