20. Juni 2016

Einschulungseuphorie

Eine Studie über die Schulkarrieren von Zürcher Kindern zeigt: Immer mehr Eltern schicken ihre Kinder ein Jahr früher in den Kindergarten - doch viele büssen später dafür.
Dreimal mehr Kinder frühzeitig eingeschult als 2001
Frühstarter bleiben öfter sitzen, Tages Anzeiger, 19.6. von Ev Manz und Daniel Schneebeli
Das Standortgespräch Mitte des zweiten Kindergartenjahres war für Maëls* Eltern Schock und Erlösung zugleich. Statt eines Übertritts in die erste Klasse empfahl die Lehrperson ihrem Sohn ein drittes Kindergartenjahr. «Er ist emotional noch nicht bereit für die Schule», sagte die Kindergärtnerin. «Man merkt ihm an, dass er mit fünfeinhalb jünger ist als alle anderen.» Die Eltern waren überrascht über das klare Verdikt. Ihr Sohn konnte schon vor dem Kindergarten schreiben, deshalb hatten sie ihn vorzeitig eingeschult. Gleichzeitig waren die Eltern froh über die Empfehlung. «Unser Sohn weinte oft, als wir von der Schule sprachen», sagt die Mutter. Erst nach dem Gespräch war ihr klar, warum.
Wenn Zürcher Kinder am kantonalen Stichtag vierjährig sind, müssen sie gemäss Gesetz zur Schule. Eltern können ihre Kinder aber auch schon früher in den Kindergarten schicken, sofern sie dies als sinnvoll erachten. 2007 hat der Kanton die Verordnung für die vorzeitige Einschulung vereinfacht, seither wird von dieser Möglichkeit rege Gebrauch gemacht. Zuvor haben Schulbehörden solche Gesuche nur ausnahmsweise bewilligt; rund 1 Prozent aller Kinder wurde früher eingeschult. 2010 waren es über 6 Prozent.
Die Einschulungseuphorie hat sich zwar seither etwas gelegt, doch noch immer werden dreimal mehr Kinder vorzeitig zur Schule geschickt als 2001. Dies zeigt eine eben veröffentlichte Studie, in der die Bildungsdirektion die Schulkarrieren von 2000 Zürcher Kindern zwischen 2001 und 2015 untersucht hat.

Jedes vierte Kind repetiert
Doch: Viele der Früheingeschulten – meist Knaben – entpuppen sich nicht als die Schnelldenker und Durchstarter, für die sie am Anfang gehalten wurden. So musste gemäss Studie fast jedes vierte Kind, das im Jahr 2010 früher eingeschult wurde, bis zum Ende der 3. Klasse eine Klasse repetieren. Von den früh eingeschulten Repetenten besuchen im Kanton bis zu 90 Prozent ein 3. Kindergartenjahr, wie es Maël gemacht hat. Sie sind also bereits beim Eintritt in die 1. Klasse wieder gleich weit wie regulär Eingeschulte. Bei diesen ist der Anteil jener, die bis zum Ende der 3. Klasse repetieren müssen, etwa dreimal tiefer.

Ähnliche Erkenntnisse zeigen Studien aus Deutschland, zum Beispiel die Hamburger LAU-Studie: Früh eingeschulte Kinder bleiben häufiger sitzen und besuchen weniger oft Gymnasien als regulär Eingeschulte.

Doch was nützt Kindern eine vorzeitige Einschulung, wenn sie kurz darauf ein Schuljahr wiederholen müssen? Forscher sind sich einig: Repetieren kann zwar bei sozialen Problemen Sinn machen, die Leistungsentwicklung beeinflusst es hingegen nicht positiv. Ganz im Gegenteil: Viele Repetenten fühlen sich wegen des zusätzlichen Schuljahres minderwertig. Sie schliessen die Schule auch deutlich häufiger in einem Schultyp mit geringeren Anforderungen ab als solche, die in der Primarschule nicht sitzen geblieben sind. Auch aus Kostengründen werden Klassenwiederholungen als ineffizient bezeichnet. Ein Schüler kostet pro Schuljahr rund 27 500 Franken, Personal-, Betreuungs- und Schulraumkosten inklusive.

Die Mehrheit der Eltern befürwortet die Möglichkeit einer vorzeitigen Einschulung. Das geht aus einer Stellungnahme der kantonalen Elternmitwirkungsorganisation hervor. Deren Präsidentin Gabriela Kohler sagt aber: «Viele Eltern befürchten, die Heterogenität in den Klassen werde durch Früheingeschulte noch grösser.»

Deutlicher Stadt-Land-Graben
In der Praxis offenbart sich bei der Einschulung jedoch ein deutlicher Stadt-Land-Graben. In Zürich wurden zwischen 2007 und 2014 über vier von 100 Kindern vorzeitig in die Schule geschickt, während es in den übrigen Bezirken nicht einmal zwei waren. Auf dem Land werden die Kinder öfter verzögert eingeschult – also erst mit 5 Jahren. Trifft das in Zürich eins von 100 Kindern, sind es in den Landbezirken überall mindestens doppelt so viele, im Bezirk Affoltern sogar sechsmal so viele.

Die Forscher führen für dieses Phänomen zwei Gründe an: Erstens sind die Bildungserwartungen auf dem Land tiefer als in der Stadt. Zweitens werden in Zürich Gesuche um verfrühte Einschulungen lockerer und uneinheitlicher gehandhabt. In den Schulkreisen Schwamendingen, Limmattal oder Zürichberg genügt ein Gesuch der Eltern. Andere Schulkreise verlangen ein ärztliches Attest; nur im Schulkreis Letzi muss zusätzlich eine Bestätigung der Krippe vorliegen.

Die Jüngsten bis zur Pubertät
In manchen Fällen zieht die Kreisschulpflege den Schulärztlichen Dienst zur Abklärung bei. Aus der Sicht der Ärztinnen und Ärzte bringen Kinder, deren Eltern auf eine vorzeitige Einschulung tendieren, in der Regel die intellektuellen Voraussetzungen für den Kindergarten mit, sagt Leiterin Andrea-Seraina Bauschatz. «Aber Intelligenz allein entscheidet nicht über den Schulerfolg.» Damit das Kind sein Wissen auch demonstrieren könne, seien die emotionale und soziale Reife genauso wichtig. «Das ist manchen Eltern zu wenig bewusst», sagt Bauschatz. Inwiefern das Kind in seiner Entwicklung bereits so weit ist, klären die Ärzte in einem Gespräch mit den Eltern. «Wir wollen vermitteln, dass es einem Kind in der Schule wohl sein muss, damit es – idealerweise – elf Jahre lang Freude an der Schule hat.» Oft müssten die Ärzte den Eltern auch vor Augen führen, dass die Kinder bis in die Pubertät die Jüngsten sein werden. Wie erfolgreich diese Abklärungen sind und wie oft Eltern ihre Gesuche zurückziehen, kann Bauschatz nicht sagen.
In einigen Fällen wird der frühzeitige Schuleinstieg aber auch von den Lehrpersonen forciert. Die Eltern von Sophie* schulten ihr jüngeres Kind, das zwei Monate nach dem damaligen Stichtag Geburtstag hatte, nicht früher ein, obwohl die Tochter körperlich weit entwickelt war. Gleichzeitig war sie noch sehr verspielt, ein gewisses Zeitpolster könne ihr nicht schaden, fanden die Eltern. Doch dann empfahlen die Lehrperson und das Hortpersonal den Eltern den Schuleintritt nach einem Kindergartenjahr. Sie sei reif genug, hiess es. Die Eltern zögerten, gaben aber nach. «Heute bereuen wir es», sagt die Mutter. Ihre Tochter hat vier Jahre später Mühe mit dem Schulstoff und ist oft krank.
Neben den (vermeintlichen) Fähigkeiten der Kinder spielen beim vorzeitigen Schuleintritt oft auch pragmatische Gründe der Eltern eine Rolle. Da sind die Nachbarskinder, die ebenfalls eingeschult werden und mit denen sich das eigene Kind so gut versteht. Man könnte sich das Begleiten zum Kindergarten aufteilen, gemeinsame Mittagstische organisieren. Da ist die Hoffnung der Eltern, mit dem Schuleintritt wieder mehr Freizeit zu haben.

Geld gibt den Ausschlag
Oft spielt auch das Geld eine gewichtige Rolle wie im Fall von Kevin*. Seine Mutter war alleinerziehend und musste ihre finanziellen Mittel einteilen. Deshalb spielte sie mit dem Gedanken, ihren Sohn früher einzuschulen, um sich die hohen Betreuungskosten in der Kinderkrippe zu sparen. «Ich traute mich damals nicht, das laut zu sagen, aber es war für mich mit ein Grund, mit dem Gedanken zu spielen.» Ein Krippentag kostet in der Stadt Zürich für Vollzahler 120 Franken, Hortbetreuung über Mittag und am Nachmittag 73 Franken.

Befreundete Lehrpersonen rieten Kevins Mutter von einer vorzeitigen Einschulung ab. Heute ist sie froh darüber, dass sie ihnen geglaubt hat. Ihr Sohn gehört seit sieben Jahren zu den Ältesten der Klasse und bringt gute Leistungen. Sie sagt: «Damals hätte ich viel Geld sparen können, aber mit diesem Entscheid blieb mir viel anderes erspart.»
* Namen der Redaktion bekannt 


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