2. Mai 2016

Volksschule muss mehr tun für Migranten

Bald entscheidet nur noch das Portemonnaie der Eltern, wie weit ein Kind in der Schule kommt. Neue Projekte versprechen Besserung – aber es braucht viel mehr davon.




























Chancengleichheit in der Schule: Fehlanzeige, Beobachter, 15.4. von Susanne Loacker


Samantha Sengupta lacht. «Chancengleichheit? Das ist ein illusorisches Ziel!» Die 37-Jährige arbeitete lange Jahre als Primarlehrerin in Zürich, «in Gegenden mit hohem Migrationsanteil». Sengupta hat den Glauben daran verloren, dass sich in der Schule und später im Beruf diejenigen durchsetzen, die am talentiertesten sind. Und das, obwohl Chancengleichheit einer der Grundpfeiler unserer Gesellschaft ist.

Ungleichheit beginnt früh. Kinder, die die Gymiprüfung absolvieren sollen, müssen wissen, was Ausdrücke wie «jemandem die Stirn bieten» oder «zur Besinnung kommen» bedeuten. Das fällt Schülern leicht, die zu Hause deutsch sprechen. Die anderen haben Pech gehabt. Damit es gar nicht so weit kommt, hat sich Sengupta entschieden, bei der Caritas das Projekt Copilot zu starten. Ihr neues Ziel lautet: die Startchancen der Migrantenkinder wenigstens ein bisschen zu ­verbessern.

Oft sind es Bagatellen, an denen bestimmte Kinder scheitern, sagt Samantha Sengupta. So müssen Eltern einen Stapel Papier durchlesen, wenn sie ihr Kind für den Kindergarten anmelden wollen. «Viele sind dann schon überfordert und merken nicht, dass sie ihr Kind für den Hort separat anmelden müssten.» Für Kinder aus Migra­tionsfamilien ist der Hort aber der­jenige Ort, wo sie Deutsch lernen ­können – und müssen. Denn im Kindergarten sind genügend Deutschkenntnisse Voraussetzung, um am Unterricht teilzuhaben.

Das Caritas-Projekt Copilot versucht es mit Teamwork: Freiwillige, in der Regel mit pädagogischem Hintergrund, helfen Eltern, die neu in der Schweiz leben und kaum Deutsch sprechen. Dabei sei wichtig, dass die Eltern «Chef» bleiben und die Berater sich nicht in Erziehungsfragen einmischen, sagt Sengupta. Die Pilotphase ist auf drei Jahre angelegt, aber bereits heute sehr erfolgreich. Im ersten Jahr wollte man 18 Familien Unterstützung vermitteln. Doch es meldeten sich so viele freiwillige Helferinnen und Helfer und auch die Nachfrage war so gross, dass bereits 30 Tandems unterwegs sind. Die Rückmeldungen sind durchwegs positiv.

Deutsch für Anfänger
In Basel gibt es seit 2008 ein ähnliches Frühförderungsprojekt. Kinder, die zu schlecht Deutsch für den Kindergarten sprechen, besuchen an zwei Halbtagen oder an einem ganzen Tag eine Sprach-Spielgruppe. Der Kanton zahlt. Nun, nach acht Jahren, zeigt sich: Die Eltern sind begeistert vom Angebot, weil es sie entlastet und weil ihnen die ­externe Kinderbetreuung die Möglichkeit gibt, mehr zu arbeiten. Und die Kinder lernen so gut Deutsch, dass sie im Kindergarten nicht automatisch Aussenseiter sind. Eine Win-win-Situation.

«Es ist absolut notwendig, Kinder mit schlechten Bildungschancen möglichst früh abzuholen», sagt der Bildungsforscher Urs Moser von der Uni Zürich im Interview mit dem Beobachter. Für ihn ist Chancengleichheit eine hehre und wichtige Forderung – aber auch eine Illusion. In einer grossangelegten Studie hat er nach den Gründen für die Ungleichheit gesucht und Erstaunliches gefunden: Es ist der soziale Status der Eltern, der über Erfolg oder Misserfolg der Kinder in der Schule entscheidet – und nicht in erster Linie die Muttersprache.

Nur wenige Migrantenkinder schaffen es
«Die Schule muss für Kinder und Jugendliche Zusatzangebote schaffen», sagt deshalb Jürg Brühlmann, Pädagogikexperte beim Dach­verband der Lehrerinnen und Lehrer. Primar- und Sekundarschulen müssten kostenlose Vorbereitungskurse für die Gymiprüfung ­anbieten. Wenn sie es nicht tun, werden Kinder von Migranten keine echte Chance auf eine Erstklassausbildung haben. Es bleibe bei der alten Gleichung: je teurer der Boden, desto höher die Gymiquote. «Es darf nicht sein, dass der Schulerfolg in erster Linie vom Portemonnaie der Eltern abhängt.»

Die Realität sieht anders aus. Deutschsprachige Kinder in Zürich erreichen eine Gymiquote von 50 Prozent, Kinder aus mazedonischen oder portugiesischen ­Familien eine Quote von zwei Prozent. «Ganz klar, hier stimmt etwas nicht», sagt Brühlmann. Seit es Pisa-Studien gibt, ist es noch deutlicher: Kinder aus dem europäischen ­Süden landen überdurchschnittlich oft in tieferen Schulniveaus. Entsprechend eingeschränkt ist ihr berufliches Voran­kommen. «Frühe Förderung, schulische Aufgabenhilfe und Vorbereitung aufs ­Gymi könnten zumindest etwas mehr ­Gerechtigkeit schaffen.»

Bildungsforscher Moser pflichtet bei: «Es kann nicht sein, dass wir das Zepter den privaten Anbietern überlassen. Natürlich ist es ein lukratives Geschäft für die Nachhilfeschulen. Aber es wäre deutlich sinnvoller, Zusatzangebote ­innerhalb des normalen Unterrichts zu schaffen.» Das ist bitter nötig. 2014 haben im reichen Schulkreis Zürichberg über 42 Prozent der Sechstklässler die Aufnahmeprüfung fürs Langzeitgymnasium geschafft, in der Flughafengemeinde Höri waren es nur fünf Prozent. In ärmeren Gemeinden sind viele Kinder gleich doppelt benachteiligt: Die Eltern können dem Sohn oder der Tochter bei den Hausaufgaben nur schlecht helfen, und zudem fehlt das Geld, den Nachwuchs in einen teuren Gymi-Vorbereitungskurs zu schicken.

Expat-Kids: systematisch gefördert
An der Oberstufe geht es im selben Stil weiter, am ärgsten in städtischen Gebieten. Dort hat sicheine eigentliche Nachhilfeindustrie gebildet. Offizielle Zahlen gibt es nicht, aber ­Insider sagen unabhängig voneinander: Zwei von drei Gymischülern erhalten mehr oder weniger regelmässig privaten Stützunterricht. Darunter zwar auch Jugend­liche, die wegen längerer Krankheit, Problemen mit einem Lehrer, ­eines Schulwechsels oder einer persönlichen Krise Unterstützung bekommen. Für sie ist Nachhilfe absolut sinnvoll. Doch für viele Schüler gehören jahrelange Privatstunden in mehreren Fächern zum Alltag. Die Zahl der Anbieter wächst, und immer mehr Studenten bessern mit Nachhilfe ihr Budget auf. Es ist weiterhin so, dass man auch ohne Stütze die Matur besteht. Es wird bloss immer schwieriger.

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