Im Frühling 2014 nahmen
über 600 Erstklässler aus Winterthur sowie rund 600 aus Mainz am Forschungsprojekt
teil, das von den Volkswirtschaftsprofessoren Ernst Fehr und Daniel Schunk
geleitet wurde. Gut 300 der Winterthurer Kinder verbrachten unter Anleitung
täglich eine Lektion am Computer und übten mit dem Lernprogramm «Robo-Memo» der
schwedischen Firma Cogmed. Die Software ist bereits einige Jahre auf dem Markt
und liefert vielversprechende Ergebnisse, unter anderem bei Kindern mit
Aufmerksamkeitsdefiziten. In Schulen kommt sie jedoch noch kaum zum Einsatz.
Ernst Fehr am Institut für Volkswirtschaftslehre, Bild: Reto Oeschger
Zürcher Starökonom tüftelt am Unterricht der Zukunft, Tages Anzeiger, 2.4. von Andrea Söldi
«Wir
wollten herausfinden, inwiefern das verhältnismässig kostengünstige Instrument
auch für die Schule nützlich ist», sagte Ernst Fehr an einer Veranstaltung in
Winterthur, an der die Ergebnisse präsentiert wurden. Der renommierte Zürcher
Professor beschäftigt sich seit langem damit, wie öffentliche Mittel am
sinnvollsten eingesetzt werden können.
«Investitionen
in den frühen Bildungsbereich fördern die Chancengleichheit», betont Fehr. Es
zeichne sich nun ab, dass das Training mit dem Computerprogramm weit grössere
Effekte erzielen könne als teurere Interventionen wie etwa die Verkleinerung
von Schulklassen oder eine bessere Ausbildung von Lehrpersonen. Für die
Gestaltung des Settings zogen die Volkswirtschaftsprofessoren Fachleute wie
Psychologen und Neurobiologen bei.
Das
Programm setzt beim Arbeitsgedächtnis an. Diesem wird unter Gehirnforschern
eine grosse Bedeutung zugemessen. Es dient dazu, Informationen für bis zu 20
Sekunden im Kopf zu behalten, um sie danach im Langzeitgedächtnis
abzuspeichern. Viele Lernschwierigkeiten sollen im Zusammenhang mit einem
ineffizienten Arbeitsgedächtnis stehen. Das Robo-Memo-Programm gibt dem Kind
einfache Aufgaben vor, die sich seinem Leistungsniveau anpassen.
Am
Bildschirm leuchten etwa verschiedene Asteroiden nacheinander auf, und das Kind
soll unmittelbar danach die Reihenfolge wiedergeben. Oder: An einem
dreidimensional dargestellten Würfel werden Punkte markiert; nachdem sich das
Objekt gedreht hat, müssen die Kinder die betreffenden Punkte bezeichnen. Eine
Kontrollgruppe löste am Computer Aufgaben anderer Art. Bei diesen Schülern
waren die Lerneffekte bedeutend kleiner. So konnte ausgeschlossen werden, dass
die Ergebnisse lediglich aufgrund der speziellen Situation und der grösseren
Motivation auftraten.
Selbstdisziplin einüben
Die
Fortschritte wurden unmittelbar nach dem Training gemessen sowie sechs und
zwölf Monate später. Besonders eindrücklich ist, dass sich die sprachliche
Erinnerungsfähigkeit, die räumlich-visuelle Vorstellungskraft sowie die
Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle auch nach einem halben und einem ganzen
Jahr deutlich positiv abhoben von jenen der Vergleichsgruppe. «Wenn sich das
Kind Dinge besser merken kann, macht der Unterricht mehr Freude, und es
profitiert längerfristig stärker», erklärt sich Fehr die erfreulichen
Ergebnisse. Mit Forderungen an die Schule gab er sich zurückhaltend: «Ich bin
zu sehr Wissenschaftler, als dass ich sofort in die Praxis springe», erklärte
er den anwesenden Schulvertretern. Doch es gebe Grund zu Optimismus.
Im
gleichen Zeitrahmen nahmen knapp 300 andere Winterthurer Kinder während sechs
Lektionen an einem Selbstregulationstraining teil. Mithilfe von kindgerecht
gestalteten Arbeitsheften setzten sie sich selber Ziele; sie benannten positive
Aspekte, die damit im Zusammenhang stehen, erkannten Hindernisse beim Erreichen
und erarbeiteten Strategien, diese zu überwinden.
Unterstufenlehrerin
Barbara Messmer aus dem Schulhaus Laubegg arbeitete mit ihren Erstklässlern zum
Beispiel am Thema Lesen. Als Einstieg erzählte sie ihnen die Geschichte eines
Balls, der auf einen Berg hinaufmöchte, aber immer wieder herunterrollt. Die
Metapher steht für Kinder, die sich vorgenommen haben, täglich das Lesen zu
üben, aber an der Umsetzung scheitern.
Als
Hindernisse nannten die Kinder etwa den Fernseher oder Computerspiele, die
stets verlockender wirken als ein Buch. Die Lehrerin liess sie danach an die
Vorteile denken, die man hat, wenn man gut lesen kann: Man versteht tolle
Geschichten, kann sich in der Welt orientieren und auch im Internet besser zurechtfinden.
Jedes Kind suchte darauf nach eigenen Lösungen in Form von Wenn-dann-Regeln, um
die Hürden zu überwinden. Zum Beispiel, dass es ein Buch neben dem Fernseher
platziert und das Gerät erst einschalten darf, wenn es der Mutter zehn Minuten
vorgelesen hat.
Stillsitzen und zuhören können
Obwohl
nur sechs Stunden für das Training investiert wurden, sind die Ergebnisse auch
hier überraschend positiv – sowohl bei starken wie auch bei schulschwachen
Kindern. Die Lesekompetenzen konnten verbessert werden, ebenso die
geometrischen Fähigkeiten sowie die Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle.
Letztere wurden unter anderem mit einer sogenannten Go-No-Go-Aufgabe überprüft:
An einem Bildschirm erscheinen schnell nacheinander verschiedene Tiere. Bei
jedem davon muss das Kind einen Knopf drücken, ausser bei der Kuh. Es befindet
sich in einem Go-Modus, muss diesen aber plötzlich unterbrechen können. Ähnlich
wie beim Stillsitzen und Zuhören in der Schule, muss es seine Impulse
kontrollieren können.
Weiter
wurde der Lernerfolg mit Befragungen von Lehrpersonen und Eltern zu vier
verschiedenen Zeitpunkten erhoben. Besonders deutlich war der Unterschied zu
Schülern ohne entsprechendes Training ein Jahr später. Winterthur überlegt sich
deshalb, die beiden Module künftig flächendeckend in der Schule einzusetzen.
«Ich
bin sicher, dass das Training etwas genützt hat», sagt Barbara Messmer. Die
ganze Klasse habe sehr motiviert mitgemacht. Auch heute noch, da sich die
Kinder bereits in der dritten Klasse befinden, führen sie Protokoll über ihr
Leseverhalten. Die Eltern bestätigen regelmässig mit ihrer Unterschrift, dass
das Kind geübt hat. Ausserdem hat die Lehrerin den Ball aus der Geschichte
nachgebastelt. Damit er nicht immer den Berg hinunterrollt, hat sie ihm
Sprungfedern angeklebt, mit denen er Hürden überhüpfen kann. Der Ball befindet
sich noch immer im Schulzimmer und erinnert die Klasse an ihre guten Vorsätze.
Ein Aprilscherz?
AntwortenLöschenNichts gegen einen massvollen Einsatz des Computers, aber was auf die Schule zukommt, zeigt schon das Bild zum Artikel: Früher arbeiteten die Erstklässler mit einem Setzkasten. Später setzten Schulbehörden auf das Sprachlabor. Heute sollen sie wie Batteriehühner vor personalisierten Computerprogrammen sitzen. Die Erfinder und Verfechter dieser digitalen Setzkastentheorie wissen vermutlich nicht, wie es ist, täglich in einer Grossraumbüronische mit Suchtschutzwänden zu arbeiten.
AntwortenLöschenAbschirmen sollten wir die Kinder von den digitalen Medien, nicht von der Klasse. Lernen braucht Gemeinschaft!