3. April 2016

Training des Arbeitsgedächtnisses hat nachhaltigen Effekt

Im Frühling 2014 nahmen über 600 Erstklässler aus Winterthur sowie rund 600 aus Mainz am Forschungs­projekt teil, das von den Volkswirtschaftsprofessoren Ernst Fehr und Daniel Schunk geleitet wurde. Gut 300 der Winterthurer Kinder verbrachten unter Anleitung täglich eine Lektion am Computer und übten mit dem Lernprogramm «Robo-Memo» der schwedischen Firma Cogmed. Die Software ist bereits einige Jahre auf dem Markt und liefert vielversprechende Ergebnisse, unter anderem bei Kindern mit Aufmerksamkeitsdefiziten. In Schulen kommt sie jedoch noch kaum zum Einsatz.



















Ernst Fehr am Institut für Volkswirtschaftslehre, Bild: Reto Oeschger
Zürcher Starökonom tüftelt am Unterricht der Zukunft, Tages Anzeiger, 2.4. von Andrea Söldi



«Wir wollten herausfinden, inwiefern das verhältnismässig kostengünstige Instrument auch für die Schule nützlich ist», sagte Ernst Fehr an einer Veran­staltung in Winterthur, an der die Ergebnisse präsentiert wurden. Der renommierte Zürcher Professor beschäftigt sich seit langem damit, wie öffentliche Mittel am sinnvollsten eingesetzt werden können.
«Investitionen in den frühen Bildungsbereich fördern die Chancengleichheit», betont Fehr. Es zeichne sich nun ab, dass das Training mit dem Computerprogramm weit grössere Effekte erzielen könne als teurere Interven­tionen wie etwa die Verkleinerung von Schulklassen oder eine bessere Ausbildung von Lehrpersonen. Für die Gestaltung des Settings zogen die Volkswirtschaftsprofessoren Fachleute wie Psychologen und Neurobio­logen bei.

Das Programm setzt beim Arbeitsgedächtnis an. Diesem wird unter Gehirnforschern eine grosse Bedeutung zugemessen. Es dient dazu, Informationen für bis zu 20 Sekunden im Kopf zu behalten, um sie danach im Langzeitgedächtnis abzuspeichern. Viele Lernschwierigkeiten sollen im Zusammenhang mit einem ineffizienten Arbeitsgedächtnis stehen. Das Robo-Memo-Programm gibt dem Kind einfache Aufgaben vor, die sich seinem Leistungsniveau anpassen.

Am Bildschirm leuchten etwa verschiedene Asteroiden nacheinander auf, und das Kind soll unmittelbar danach die Reihenfolge wiedergeben. Oder: An einem dreidimensional dargestellten Würfel werden Punkte markiert; nachdem sich das Objekt gedreht hat, müssen die Kinder die betreffenden Punkte bezeichnen. Eine Kontrollgruppe löste am Computer Aufgaben anderer Art. Bei diesen Schülern waren die Lerneffekte bedeutend kleiner. So konnte ausgeschlossen werden, dass die Ergebnisse lediglich aufgrund der speziellen Situation und der grösseren Motivation auftraten.

Selbstdisziplin einüben
Die Fortschritte wurden unmittelbar nach dem Training gemessen sowie sechs und zwölf Monate später. Besonders eindrücklich ist, dass sich die sprachliche Erinnerungsfähigkeit, die räumlich-visuelle Vorstellungskraft sowie die Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle auch nach einem halben und einem ganzen Jahr deutlich positiv abhoben von jenen der Vergleichsgruppe. «Wenn sich das Kind Dinge besser merken kann, macht der Unterricht mehr Freude, und es profitiert längerfristig stärker», erklärt sich Fehr die erfreulichen Ergebnisse. Mit Forderungen an die Schule gab er sich zurückhaltend: «Ich bin zu sehr Wissenschaftler, als dass ich sofort in die Praxis springe», erklärte er den anwesenden Schulvertretern. Doch es gebe Grund zu Optimismus.

Im gleichen Zeitrahmen nahmen knapp 300 andere Winterthurer Kinder während sechs Lektionen an einem Selbst­regulationstraining teil. Mithilfe von kindgerecht gestalteten Arbeitsheften setzten sie sich selber Ziele; sie benannten positive Aspekte, die damit im Zusammenhang stehen, erkannten Hindernisse beim Erreichen und erarbeiteten Strategien, diese zu überwinden.

Unterstufenlehrerin Barbara Messmer aus dem Schulhaus Laubegg arbeitete mit ihren Erstklässlern zum Beispiel am Thema Lesen. Als Einstieg erzählte sie ihnen die Geschichte eines Balls, der auf einen Berg hinaufmöchte, aber immer wieder herunterrollt. Die Metapher steht für Kinder, die sich vorgenommen haben, täglich das Lesen zu üben, aber an der Umsetzung scheitern.

Als Hindernisse nannten die Kinder etwa den Fernseher oder Computerspiele, die stets verlockender wirken als ein Buch. Die Lehrerin liess sie danach an die Vorteile denken, die man hat, wenn man gut lesen kann: Man versteht tolle Geschichten, kann sich in der Welt orientieren und auch im Internet besser zurechtfinden. Jedes Kind suchte darauf nach eigenen Lösungen in Form von Wenn-dann-Regeln, um die Hürden zu überwinden. Zum Beispiel, dass es ein Buch neben dem Fernseher platziert und das Gerät erst einschalten darf, wenn es der Mutter zehn Minuten vorgelesen hat.

Stillsitzen und zuhören können
Obwohl nur sechs Stunden für das Training investiert wurden, sind die Ergebnisse auch hier überraschend positiv – sowohl bei starken wie auch bei schulschwachen Kindern. Die Lesekompetenzen konnten verbessert werden, ebenso die geometrischen Fähigkeiten sowie die Aufmerksamkeits- und Impulskontrolle. Letztere wurden unter anderem mit einer sogenannten Go-No-Go-Aufgabe überprüft: An einem Bildschirm erscheinen schnell nacheinander verschiedene Tiere. Bei jedem davon muss das Kind einen Knopf drücken, ausser bei der Kuh. Es befindet sich in einem Go-Modus, muss diesen aber plötzlich unterbrechen können. Ähnlich wie beim Stillsitzen und Zuhören in der Schule, muss es seine Impulse kontrollieren können.

Weiter wurde der Lernerfolg mit Befragungen von Lehrpersonen und Eltern zu vier verschiedenen Zeitpunkten erhoben. Besonders deutlich war der Unterschied zu Schülern ohne entsprechendes Training ein Jahr später. Winterthur überlegt sich deshalb, die beiden Module künftig flächendeckend in der Schule einzusetzen.

«Ich bin sicher, dass das Training etwas genützt hat», sagt Barbara Messmer. Die ganze Klasse habe sehr motiviert mitgemacht. Auch heute noch, da sich die Kinder bereits in der dritten Klasse befinden, führen sie Protokoll über ihr Leseverhalten. Die Eltern bestätigen regelmässig mit ihrer Unterschrift, dass das Kind geübt hat. Ausserdem hat die Lehrerin den Ball aus der Geschichte nachgebastelt. Damit er nicht immer den Berg hinunterrollt, hat sie ihm Sprungfedern angeklebt, mit denen er Hürden überhüpfen kann. Der Ball befindet sich noch immer im Schulzimmer und erinnert die Klasse an ihre guten Vorsätze.


2 Kommentare:

  1. Nichts gegen einen massvollen Einsatz des Computers, aber was auf die Schule zukommt, zeigt schon das Bild zum Artikel: Früher arbeiteten die Erstklässler mit einem Setzkasten. Später setzten Schulbehörden auf das Sprachlabor. Heute sollen sie wie Batteriehühner vor personalisierten Computerprogrammen sitzen. Die Erfinder und Verfechter dieser digitalen Setzkastentheorie wissen vermutlich nicht, wie es ist, täglich in einer Grossraumbüronische mit Suchtschutzwänden zu arbeiten.
    Abschirmen sollten wir die Kinder von den digitalen Medien, nicht von der Klasse. Lernen braucht Gemeinschaft!

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