7. April 2016

Schulfranzösisch und der nationale Zusammenhalt

Kleines Land, kleine Sorgen: Anders lässt sich die Aufregung nicht erklären, die der Entscheid des Thurgaus ausgelöst hat, Fran­zösisch nicht mehr in der Primarschule zu lehren. Gewiss, es staucht das Ego der Frankophonen, dass Englisch in Klassenzimmern der Ostschweiz mehr gilt als die Sprache von Molière oder ­Ramuz. Aber droht deswegen Gefahr für den Zusammenhalt der Nation? Sicher nicht. Denn selbst wenn die Reform im Thurgau die Vernehmlassung und allenfalls auch eine Volksabstimmung übersteht, ändert sie nichts an der durchschnittlichen Fähigkeit der Schweizer, sich in ihren Landessprachen zu verständigen.
Falscher Mythos, Weltwoche 14/2016 von Sylvain Besson


Kaum jemand spricht vom wahren Problem: Die Romands können sich ungenügend auf Deutsch ausdrücken. Das kommt einerseits von einem kaum angebrachten Gefühl der kulturellen Überlegenheit, von den französischen Nachbarn geerbt, anderseits von den verknöcherten Methoden der Deutschlehrer – zusammen mit dem Komplex der Minderheit, die das Idiom der Mehrheit stolz verkennt. Das ist bedauerlich. Aber es scheint die Kämpfer für den Zusammenhalt nicht zu kümmern, die jetzt über den Thurgau schimpfen. Mit der Bibel ­gesprochen: Die Romands, die über die mangelnde Lust der Alemannen auf Französisch klagen, sehen den Splitter im Auge der anderen, aber nicht den Balken im eigenen.

Die Aufregung wegen des Verzichts auf Französisch lässt sich gleichwohl nachfühlen. Aber sie gründet auf einem falschen Mythos: jenem einer Schweiz, in der sich jeder Bürger dank der Schule in den Landessprachen verständigen kann. Er stimmt offensichtlich nicht. Vom Deutschschweizer, der sich nur in seiner Mundart ausdrückt, über den Bilingue, der sich in zwei Idiomen wohlfühlt, bis zum Polyglotten, der fünf oder sechs Sprachen beherrscht, findet sich eine grosse Vielfalt.

Doch das gefährdet nicht den Zusammenhalt der Nation. Denn der beruht auf all jenen, vom Bankdirektor bis zum Zugführer, die täglich in zwei oder sogar drei Landessprachen leben. Dieses Rückgrat der Nation wächst im Kontakt der Landesteile heran, vor allem bei der Arbeit. Die Schule bildet nur die Grundlage dafür – es kommt nicht darauf an, ob auf der Primar- oder auf der Sekundarstufe. Auch ein kleines Land hat grössere Probleme.


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