23. April 2016

Kluft zwischen Sek und Gymi vergrössert sich

Im Kanton Zürich haben viele ehemalige Sekundarschüler Probleme, in der Mittelschule mitzukommen. Bildungspolitiker fordern neue Modelle.














Kinder im Langzeitgymi lernen von Anfang an, selbständig zu arbeiten, Sekschüler könnten das oft weniger, Bild: Gaetan Bally
Kurz-Gymnasium: Jeder Fünfte fliegt in der Probezeit raus, Tages Anzeiger, 23.4. von Marisa Eggli
Sie lernen, kämpfen, beissen sich durch: Für durchschnittliche Schüler und Schülerinnen ist das Gymnasium hart. In der halbjährigen Probezeit müssen sie beweisen, dass sie der anspruchsvollen Schule gewachsen sind. Sonst fallen sie durch, müssen zurück in die Sekundarschule oder schnell noch eine Lehrstelle suchen.

Die Zahl der gescheiterten Jugendlichen steigt. Das gilt insbesondere für die Kurzzeitgymnasien, in welche die Schüler nach zwei oder drei Jahren Sekundarschule eintreten. Inzwischen verlässt im Kanton Zürich jeder fünfte Schüler das Kurzgymi während oder am Schluss der Probezeit. Die Quote lag 2015 bei 22,2 Prozent, was 339 Schülerinnen und Schülern entspricht. Diese Entwicklung geht aus neuen Zahlen hervor, die die kantonale Bildungsdirektion für den TA aufbereitet hat.

Steigende Quote von Gymnasiasten, welche die Probezeit nicht bestehen
Mittelschullehrer Silvio Stucki kennt die Situation. Er spricht von Jahren, in denen sechs bis sieben Schüler und Schülerinnen einer Klasse das Gymnasium nach der Probezeit verlassen mussten. «Die Klassen schrumpfen während der Probezeit deutlich», sagt er. Stucki unterrichtet am Zürcher Kurzgymnasium Enge. In seinen Klassen treffen Jugendliche aufeinander, die bereits zwei Jahre lang die Kantonsschule besucht haben, und solche, die aus der Sekundarschule kommen. Die Quote von 20 Prozent sei «hoch», eine Erklärung dafür «schwierig».

Er beobachtet, dass einige Sekundarschüler Mühe haben, sich ans Gymnasium zu gewöhnen. An den Kantonsschulen ist selbstständiges Lernen gefragt, die Klassen sind grösser, die Betreuung durch die verschiedenen Lehrer ist weniger intensiv. Jugendliche, die bereits nach der Primarschule an die Kantonsschule gekommen seien, hätten sich eher an diesen «Groove» gewöhnt. Für Sekundarschüler sei das in den ersten Wochen schwierig.

Ein Problem sieht Stucki auch im Schulstoff. Kantonsschülerinnen und Sekundarschüler seien unterschiedlich weit. In seinem Fach Biologie zum Beispiel hätten einige Grundlagen wie die Zellteilung bereits behandelt, andere wenig davon gehört.

Jugendliche ans Gymi gepusht
Sekundarlehrer Kaspar Vogel spricht vom selben Problem und einer «Kluft», die sich öffnet zwischen Sekundar- und Kantonsschulen. Als Präsident des Lehrerverbands Sek ZH beobachtet er diese Entwicklung seit einigen Jahren. Inzwischen versuchen die Schulen, aufeinander zuzugehen und die Fächer anzugleichen. Es seien viele Gespräche im Gang, sagt Vogel. Aber es bestünden unter den Lehrpersonen auch Uneinigkeiten. Im Französisch zum Beispiel trainieren Sekundarlehrer mit ihren Schülern eher das Sprachverständnis, die Kantonsschullehrer die Grammatik.

Für Vogel steckt hinter der hohen Zahl von gescheiterten Schülern an erster Stelle ein anderes Problem. Seit einigen Jahren zählen die Vorleistungen von Sekundarschülern nicht mehr für die Aufnahme ans Gymnasium. Da die Aufnahmeprüfung allein matchentscheidend sei, würden sich viele mit intensiven Nachhilfestunden darauf vorbereitet – und so regelrecht ans Gymnasium gepusht. Später können sie die Leistung jedoch nicht halten. Vogel sagt: «Manchmal staune ich wirklich, welche Kinder an die Kantonsschule kommen.» Er fordert, dass künftig wieder die Vorleistungen zählen.

Aargau kennt Problem kaum
Den beiden Lehrern Stucki und Vogel bereitet die Entwicklung Sorge. Denn die Jugendlichen, die im Gymnasium scheitern, brauchen meist ziemlich viel Zeit, bis sie die Situation überwunden haben. Sie leiden daran, dass sie ihre Ziele nicht erreichen konnten. Lilo Lätzsch, Lehrerin und Geschäftsleiterin des Zürcher Lehrerverbands, sagt: «Jede Art von Scheitern ist bitter.» Dass so viele während der Probezeit ausscheiden, sei sehr ungünstig: «An den Jugendlichen geht das nicht spurlos vorbei.»

SP-Kantonsrat und Mittelschullehrer Moritz Spillmann erstaunen die jüngsten Zahlen. Dass im Schnitt jeder fünfte das Gymi in der Probezeit verlässt, hält er für «eine sehr hohe Zahl». Vor allem, weil er im Aargau als Lehrer arbeitet. Dort würden viel weniger Schülerinnen und Schüler in der Probezeit scheitern. «Wers im Aargau ans Gymi geschafft hat, bleibt meist dort», sagt Spillmann. Für ihn bedeutet die Zürcher Quote, dass die Aufnahmeprüfung bei jedem fünften Kind ein falsches Ergebnis hervorgebracht hat. «Das müsste man vermeiden können.»

Diesem Vorwurf widerspricht das kantonale Mittelschulamt, das für die Aufnahmeprüfung zuständig ist. Amtschef Marc Kummer gibt die Schuld an die Eltern und Jugendlichen weiter: «Oft werden auch Vorbereitungskurse belegt, um die Aufnahmeprüfungen zu bestehen.» In der Probezeit zeige sich dann, dass das Gymnasium trotz bestandener Prüfung für gewisse Schüler nicht der richtige Ausbildungsweg sei.

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