28. April 2016

Gingg ans Schienbein

«Demokratie ist halt wirklich eine schwierige Staatsform, besonders für alle jene, die sich an Widerspruch nicht mehr so recht gewöhnen können, weil sie auf einem Thron hocken und fast nur von Ja-Sagern umgeben sind.» Der kluge Satz von SP-Bundesrat Willi Ritschard ist satte 35 Jahre alt. An Aktualität hat er nichts eingebüsst.

Besonders anstrengend ist die direkte Demokratie. Alle wollen mitreden und mitbestimmen. Die Entscheidungsprozesse werden dadurch kompliziert und träge. Parlament und Volk stören, wirken wie Sand im Getriebe. Nicht wenige Regierungen fühlen sich in ihrer freien Entfaltung behindert.

Die Liste der Themen, in denen der notwendige Durchblick ausschliesslich den Profis in Politik und Wirtschaft zugebilligt wird, verlängert sich unablässig und umfasst unterdessen die unterschiedlichsten Probleme.
Demokratie kann sehr mühsam sein, Roland Stark, Basler Zeitung, 28.4.

Nach dem Nein der Niederländer im Referendum über das Assoziierungsabkommen mit der Ukraine hat sich der luxemburgische Aussenminister Jean Asselborn gegen weitere Volksabstimmungen gewandt. «Das Referendum ist kein geeignetes Instrument in einer parlamentarischen Demokratie, um komplexe Fragen zu beantworten. Wenn man Europa kaputt machen will, dann braucht man nur mehr Referenden zu veranstalten.»

Und einige Etagen tiefer antwortet der Präsident der Schweizer Erziehungsdirektorenkonferenz auf die Bemerkung der Zeit, er hätte ja den Lehrplan 21 auch nicht durch einen Volksentscheid absegnen lassen müssen, kurz und trocken: «Zum Glück nicht, muss ich ehrlicherweise sagen.»

Nun kann nicht ernsthaft bestritten werden, dass in Volksabstimmungen häufig Denkzettel und Ohrfeigen verteilt werden und der tatsächliche politische Inhalt in den Hintergrund tritt oder gar völlig verschwindet. Niemand glaubt doch, dass in den Niederlanden jemand den Vertrag mit 177 ­Seiten und die 46 Anhänge und drei Protokolle mit weiteren 1958 Seiten gelesen hat. Die Niederländer hätten durch seriöse Lektüre erfahren können, dass die Ukraine auf frische Perlhühner einen Grundzoll von 15 Prozent erhebt, während es auf gefrorene nur 12 Prozent sind. Auf falsche Bärte wird immer derselbe Zoll eingetrieben, seien sie nun aus echten Haaren oder aus synthetischen Fasern. 10 Prozent. Nein, darum ging es nicht. Das Volk – beziehungsweise die bescheidenen 32 Prozent aktive Bürgerinnen und Bürger – wollte der Regierung einen tüchtigen Gingg ans Schienbein versetzen und das «böse Brüssel» bestrafen.

Nicht viel anders verlaufen die Debatten über den Lehrplan 21, Harmos, Integration und andere Reformen. Zweifellos gibt es viel mehr Kritiker des bürokratischen Lehrplan-Ungetüms als Leser. Kaum jemand wird freiwillig die Mühen und ­Qualen auf sich nehmen, sich durch die unzähligen Kompetenzen, Teilkompetenzen, Kompetenzraster und Kompetenzstufen zu wühlen. Das spürbare Unbehagen, auch in linken Kreisen, ­entstammt vielmehr der Tatsache, dass einschneidende Reformen durch eine überbordende und unkontrollierte Bildungsbürokratie durchgezwängt wurden. An Parlament und Volk vorbei. Die entscheidende Frage ist darum, ob die demokratische Kontrolle über die Entwicklung unseres Schulwesens zurückgewonnen werden kann.

Selbstverständlich wäre es für die Regierenden bequemer, wenn sie die Themen selbst bestimmen könnten, über die das lästige Stimmvolk diskutieren und entscheiden darf. Die wortreichen Beschwörungen der Volkssouveränität würden dann aber noch mehr zu billigen Sonntagsreden degradiert.


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