10. April 2016

Ein verweigerter Handschlag und seine Folgen

In einem ausgezeichneten, weil vorbildlich kritischen Interviewmit Monica Gschwind hat Telebasel diese Woche aufgezeigt, was alles faul ist amverweigerten Handschlag von Therwil. Nachdem die Baselbieter Erziehungsdirektorin, also die Chefin aller Schulen im Kanton, mehrere Male betont hatte, dass sie das Verhalten der beiden Schüler nicht in Ordnung findet, aber sie trotzdem darauf bestand, die Sache erst mit einem juristischen Gutachten klären zu lassen, fragte Adrian Plachesi, der Journalist: «Und wenn das Gut­achten zum Schluss kommt, dass die beiden Buben den Handschlag verweigern dürfen. Was tun Sie dann?»
Larifari in Therwil, Basler Zeitung, 9.4. Kommentar von Markus Somm

Darauf wusste Gschwind nichts zu ent­gegnen – ausser, dass sie erneut beteuerte, für wie unkorrekt sie das Benehmen der beiden Buben halte. Fast verzweifelt klang Gschwind, als sie ­wiederholte, sie möchte keinen «Schnellschuss» ab­geben, weswegen Geduld vonnöten sei. Auch wollte sie erst wissen, wie die anderen Kantone solches handhabten oder was die EDK dazu meinte. Dass Gschwind nicht noch ein Gutachten der UNO und der Arabischen Liga abwartete: Man wäre darauf gefasst gewesen.

Regieren in der Schweiz im Jahr 2016: Niemand übernimmt Verantwortung, niemand findet ein klares Wort, niemand ist da. Wenn eine Regierungsrätin nicht mehr in der Lage ist, respektloses Verhalten zweier pubertierender Buben so zu ­verurteilen und zu unterbinden, wie man sich das seit jeher gewohnt war: Dann sind wir in Schwierigkeiten. Verräterisch war, wie Gschwind darauf hinwies, die beiden Buben hätten ein Recht, beschult zu werden. Gewiss, doch heisst das, dass wir uns alles gefallen lassen müssen, weil wir unsere Hausordnung – ob in der Schule oder anderswo – nicht mehr durchsetzen können?

Denn was die Schweiz erschüttert, ist ja nicht die Tatsache allein, dass zwei adoleszente Männer unter dem Vorwand der Religion ihrer Lehrerin den landesüblichen Respekt vorenthalten, sondern auch, wie sich unsere Behörden nicht mehr trauen, dagegen vorzugehen. Mit Unbehagen fragt man sich, was alles an Zumutungen noch denkbar ist? Was tut eine Schule, wenn ein Jüngling aus ­religiösen Gründen nicht mehr im gleichen ­Zimmer wie die Mädchen sitzen will? Oder was unternimmt ein Lehrer, wenn ein Schüler einfach die Hausaufgaben versäumt, weil er stattdessen im Koran lesen musste? Warten wir auch dann gebannt auf ein Gutachten der Juristen?

Kampf der Autoritäten
Selten hat ein Ereignis, das auf den ersten Blick so trivial erscheint, so viele Miseren der Gegenwart in sich vereinigt: Natürlich offenbart Therwil unsere fast pathologische Angst, gegenüber einer vor Kurzem eingewanderten Minderheit klarzustellen, dass wir (noch) nicht in einem muslimischen Land leben – aber Therwil verdeutlicht auch den spektakulären Zusammenbruch dessen, was man früher «Erziehung» nannte. Wenn zwei Jugendliche in der Schule rebellieren – und um das handelt es sich auch in Therwil – stand früher ausser Zweifel, wie man damit umgeht: Man unterbindet es, man setzt etwas dagegen, man zeigt, wer der Chef ist. Als wir an der Kantonsschule freche Flugblätter verteilten oder einen Sitzstreik organisierten, dann wurden wir einfach bestraft. Der Fantasie der Lehrerschaft waren keine Grenzen gesetzt. Selbstverständlich hatten wir eine Sanktion auch vorausgesehen – wenn nicht insgeheim sogar erhofft. Junge ­Menschen – besonders Männer – suchen den Streit mit den Autoritäten. Und diese Autoritäten verderben die jungen Menschen, wenn sie nicht reagieren – oder noch schlimmer: nachgeben.

Der Rektor der betroffenen Sekundarschule in Therwil, Jürg Lauener, und seine Lehrer betrieben eine Art von Appeasement, wie sie selbst unter modernen Politikern selten zu beobachten ist. Statt Klartext zu reden und ein Mindestmass von Disziplin durchzusetzen, baute man eine therapeutische Gruppenpraxis auf: Man berief eine «Krisensitzung» ein, rang um Verständnis, lud die Eltern ein und schloss einen Kompromiss, der ­weiter ging, als das, was die Rebellen gefordert hatten. Weil es angeblich im Islam einem Mann untersagt sein soll, einer Frau die Hand zu geben, hatten die beiden Lausbuben von einem Tag auf den andern beschlossen, ihrer Lehrerin den ­Händedruck zu verweigern.

Um diese offensichtliche Diskriminierung einer Frau ungeschehen zu machen, wählte Lauener einen originellen, aber schändlichen Ausweg: Er bot den Rebellen an, einfach gar niemanden mehr mit einem Handschlag zu grüssen, also auch den Männern vorzuenthalten, was in unseren Breitengraden seit Jahrhunderten als guter Anstand gilt. Lauener ist damit ein Meisterstück der Unterwerfung gelungen. Das wirkt so, als ob man einen Angreifer, der drauf und dran ist, einen zu schlagen, als Kompromiss vorschlägt, auch den Kollegen, der neben einem steht, zu ­verprügeln. Das war kein Kompromiss, wo beide Seiten nachgegeben hätten, sondern es war eine Kapitulation. Wären wir wirklich überrascht, wenn in Therwil die Schüler künftig die Lehrer ausbilden würden?

Natürlich schätzen wir die Religionsfreiheit, aber auch diese ist wie viele andere Freiheiten nicht absolut gesetzt – ab und zu gerät sie in ­Konflikt mit anderen Menschenrechten. Wie immer man diese Rechte im Einzelnen gegen­einander abwägt: Ist es eine unzumutbare Belastung, wenn ein vierzehnjähriger, muslimischer Junge einer (christlichen oder agnostischen) ­Lehrerin die Hand geben muss – oder hat die Frau nicht genauso ein Recht darauf, dass sie von allen ihren Schülern gleich respektvoll behandelt wird? Oder hat eine weibliche Christin mit anderen ­Worten weniger Rechte als ein männlicher ­Muslim? Wie immer man diesen Konflikt beurteilt: Darüber könnten wir nun seitenlange Disser­tationen verfassen. Und ich bin überzeugt, dass kluge Köpfe zu sehr unterschiedlichen Befunden kommen könnten, sodass am Ende wieder ­niemand zu wissen scheint, wie man in Therwil hätte entscheiden müssen.

Vom Wesen des Händedrucks
Doch – wir alle ahnen es – die Sache ist sehr viel banaler. Wenn wir diesen syrischen Immigranten, die erst seit wenigen Jahren hier leben, eine Ausbildung bezahlen – in einem der besten und teuersten Bildungssystemen der Welt, ohne dass sie oder ihre Vorfahren je auch nur einen kleinsten Beitrag dazu geleistet haben –, dann ­können wir mit gutem Grund mehr Dankbarkeit erwarten. Und eine solche Dankbarkeit drückt sich auch darin aus, dass man sich an die Regeln hält, die man in der neuen Heimat vorfindet. Zu diesen Regeln gehört es, dass wir uns im Westen per Handschlag begrüssen – unabhängig von Alter, Geschlecht, politischer Gesinnung, sexueller Orientierung, Einkommen oder ob wir uns ­vegetarisch ernähren oder mit Fleisch. Alles andere gilt als Kränkung, als schwere Kränkung.

Wer sich auf die Flucht begibt und in einem neuen Land ankommt, das freundlich oder zivilisiert genug ist, dass es einem Schutz bietet: Er weiss, wie man sich benimmt. Er weiss, was sich gehört. Manche Bräuche der Einheimischen mag er kurios finden, einige stören ihn, andere widersprechen seiner Religion – nie aber würde es einem dankbaren, echten Flüchtling einfallen, sich darüber zu beklagen, geschweige denn die Einheimischen bewusst vor den Kopf zu stossen. Haben die Juden, die sich während der Nazi-Zeit in die Schweiz retteten (es waren leider viel zu wenige, die wir aufnahmen), je darüber beschwert, dass wir – mehrheitlich alles ­Christen – damals noch am Samstagmorgen, dem heiligen Tag der Juden, arbeiteten und manche der Juden das ebenfalls zu tun hatten? Wer einwandert, muss nicht alles aufgeben, was er mitbringt – er muss aber Kompromisse schliessen, mehr Kompromisse als die Ein­­heimischen. Überall auf der Welt gilt das, selbst in Syrien.

Wehret den Anfängen
Vor Jahren hat der amerikanische Politiker Rudolph Giuliani die Stadt New York befriedet, indem er als Bürgermeister seine Polizei anwies, jedes Vergehen, es mag noch so gering erscheinen, sofort und hart zu ahnden. Man nannte seinen Ansatz die «Broken windows theory», die Theorie der gebrochenen Fensterscheiben, weil Giuliani buchstäblich verlangte, jeden Teenager, der ein Fenster einwarf oder eine Wand besprayte, zu verhaften und zu büssen. Zuerst wurde ­Giuliani belächelt, von manchen gar bekämpft als ein gefährlicher Vereinfacher, ein Simpel, der die komplexe Welt der Kriminalität im Zeichen der fortschreitenden Globalisierung nicht begriff, dann tauchten die ersten Resultate auf, und sie strahlten hell. Bald war New York eine der sichersten Städte Amerikas, nirgendwo gingen weniger Scheiben in die Brüche, nirgendwo wurden aber auch so wenige Leute ermordet. Giulianis Null-­Toleranz-Politik war ein Durchbruch. Er hatte recht bekommen.

Das gleiche gilt in der Integrationspolitik. ­Wollen wir, dass diese jungen Syrer je reüssieren in unserem Land, dann haben wir ihnen von Anfang an klarzumachen, was von ihnen erwartet wird – und diese Erkenntnis gewähren wir ihnen nur, wenn wir jeden Verstoss gegen unsere Werte, er mag noch so bedeutungslos wirken, sofort ­ahnden. Deshalb ist die Kuddelmuddel-Strategie der Therwiler Schulbehörde so falsch: Weil sie im scheinbar Kleinen nachgibt, ohne daran zu ­denken, was für Schlüsse die Betroffenen für das Grosse ziehen. Und deshalb hätte Monica Gschwind sofort einschreiten und das tun müssen, was sie ja ­persönlich, wie sie im Gespräch mit ­Telebasel sagte, auch findet: dass das Verhalten dieser beiden Buben nicht korrekt war. Und was nicht ­korrekt ist, muss korrigiert werden. Nicht von ungefähr steckt im Begriff Regierungsrat das Wort Regieren.


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