6. April 2016

Die Illusion vom Ende der Ausgrenzung

Integration fordert für alle Menschen die volle Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. Dabeisein ist alles. Mit Ausgrenzung soll Schluss sein. «Es ist normal, verschieden zu sein» oder «jedes Kind ist besonders».


 

 










Heterogene Klassen senken das Niveau für alle, Bild: Yanik Bürkli
Die Illusion vom Ende der Ausgrenzung, Blog Südostschweiz, 6.4. von Elisabeth Calcagnini



Diese Devisen wurden zu einer neuen Weltanschauung erklärt, die in alle sozialen Bereiche ausstrahlte. Wer mag da widersprechen? Weltweit forderten die Vereinten Nationen die Auflösung aller Spezial- und Sonderschulen. Die Integration und zurzeit vermehrt sogar die Inklusion wurde und wird im Bildungswesen in vielen Ländern umgesetzt. Doch ein regulärer Unterricht für alle kann kein regulärer Unterricht mehr sein. Lerngruppen sollten in etwa ähnliche Lernvoraussetzungen haben. Eine Senkung des Niveaus für alle wird die Folge sein.


Insbesondere behinderte und lernschwache Kinder haben ein Anrecht auf einen Schonraum, wo sie mit ihresgleichen, ohne dauernden Vergleich, ihre kleinen Lernfortschritte realisieren können.

Wovon die Rede ist, wenn von Integration geredet und geschrieben wird, weiss ich aus eigener Erfahrung. In den Neunzigerjahren arbeitete ich als Audiopädagogin mit schwerhörigen, in den Regelklassen integrierten Kindern in einem separaten Kämmerlein den nicht verstandenen Stoff auf und beriet die Lehrpersonen, wie sie der Integration zum Gelingen verhelfen konnten. Mit Begeisterung baute ich ein Teilintegrationsprojekt für gehörlose Kinder auf. Von weit her wurden sie mit einem Taxi zum Schulhaus gefahren, wo ich sie in den Hauptfächern ihren Möglichkeiten entsprechend förderte. In den Fächern Turnen, Handarbeit, Zeichnen usw. waren sie in verschiedene Regelklassen integriert. Eine schöne Idee, doch unter den Gleichaltrigen blieben sie Aussenseiter und die Lehrpersonen verbrannten mit der zusätzlichen Belastung viel pädagogischen Enthusiasmus. Viele Jahre lang erlebte ich es hautnah mit, wie behinderte oder lernschwache Kinder tagtäglich auf schmerzliche Weise mit dem eigenen Unvermögen und der Einsamkeit in den Regelklassen konfrontiert waren. Allen Bemühungen und viel gutem Willen zum Trotz, bleiben Kinder mit Schwierigkeiten unterschiedlicher Art Aussenseiter und werden nach wie vor oft ausgegrenzt. Die Erleichterung von Kindern mitzuerleben, die in der Oberstufe endlich mit anderen Kindern, die ähnliche Schwierigkeiten hatten, in einem geschützten Rahmen unterrichtet wurden, bleibt in lebendiger Erinnerung.

Auch hier im Kanton Graubünden werden je länger je mehr alle Kinder gemeinsam beschult. Viele Kleinklassen wurden geschlossen. Eine Sonderschule besuchen immer weniger Kinder. Und die Heilpädagogen werden zu mobilen Einsatzkräften degradiert, die im sogenannten Teamteaching gleichzeitig mit den Lehrpersonen anwesend sein müssen. Die heterogenen Klassen machen einen gemeinsamen Unterricht praktisch unmöglich. Die daraus entstehenden Probleme können weder mit individuellen Beurteilungen noch mit strukturellen Änderungen, mehr Geld, mehr Heilpädagogen und mehr Hilfspersonal behoben werden. Warum nicht Grösse zeigen, die falsche Ideologie verabschieden, auf ein vernünftiges mehrgliedriges Schulsystem zurückkommen und Kleinklassen wieder zulassen? Niemand will die Rückkehr zur früheren starr getrennten Beschulung, mit der vielen Kindern zum vorneherein Möglichkeiten verbaut wurden. Im Kanton Graubünden bliebe noch genügend Zeit, um von den Erfahrungen und den Fehlern, die in anderen Ländern und in anderen Kantonen gemacht wurden, zu lernen. Auch in einer mehrgliedrigen Schule sind sinnvolle Projekte möglich, wie zum Beispiel der Film «Rhythm is it», in dem Sonderschüler und Gymnasiasten zusammenarbeiten, eindrücklich zeigt.

Elisabeth Calcagnini ist Heilpädagogin und Mitinitiantin der Doppelinitiative Gute Schule Graubünden – «Mitsprache bei wichtigen Bildungsfragen» und «Mitsprache bei Lehrplänen»


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