21. April 2016

"Das klassische Unterrichtsmodell gibt’s in zehn Jahren nicht mehr"

Christoph Schmitt aus Baar lässt kein gutes Haar an unserem Bildungssystem. Er kritisiert unsere «Bulimie-Pädagogik» und dass die Schule in der «Kreidezeit» feststecke. Der Bildungsexperte fordert weniger Unterricht und einen Stopp der Wissenslogistik. Und erklärt, wieso er trotzdem optimistisch ist.













Hält nichts von Auswendiglernen: Chrstoph Schmitt, Bild: zentralplus
"Wenn man die Kinder nur lässt", Zentralplus, 21.4.
zentralplus: Sie mögen markige Worte. Sie kritisieren etwa die «Bulimie-Pädagogik» von Gymnasien: «Stoff auswendig lernen, um ihn bei der Prüfung wieder herauszuwürgen». Müssen Sie provozieren, um wahrgenommen zu werden?
Christoph Schmitt: Bildung ist für mich ein sehr emotionales Thema, weil es um die menschliche Entwicklung geht. Für mich ist der Zusammenhang von Emotionen und Bildern sehr wichtig. Ich funktioniere über Bilder, weil Kommunikation über Bilder viel lebendiger ist. Von daher ist Provokation eher sekundär, es geht mir einfach darum, etwas auf den Punkt zu bringen.

zentralplus: Aber Sie lösen damit etwas aus?
Schmitt: Es ist tatsächlich so. Ein Gastbeitrag in der «Neuen Luzerner Zeitung» (im Juni 2015, Anm. d. Red.) hat zum Teil brutale Reaktionen ausgelöst. Obwohl mein Buch «Bildung auf Augenhöhe» harmlos ist im Vergleich zu dem, was im deutschen Buchmarkt sonst noch unterwegs ist von Professoren und langjährigen Experten im Bildungsbereich. Die sind noch viel radikaler mit ihren Forderungen.

zentralplus: Sie kritisieren das Auswendiglernen. Was ist so schlimm daran? Das mussten wir doch früher alle tun.
Schmitt: Die Frage ist, welchen Sinn und Nutzen es für mich hat. Was habe ich davon, wenn ich etwas auswendig lerne? Ausser du bist Bruno Ganz, dann ist das wichtig. Aber kein Schauspieler würde sagen: Das Geilste an meinem Job ist das Auswendiglernen.

Es kann mir keiner so richtig erklären, welchen positiven Effekt es in der Bildungskarriere eines Menschen hat. Im Gegenteil: Die Neurobiologie hat eindeutig bewiesen, dass es keinerlei positiven Effekte auf die Hirnentwicklung hat. Genauso wenig wie Spinat besonders gesund ist.

zentralplus: Aber unsere Bildung fokussiert immer noch aufs Auswendiglernen?
Schmitt: Nicht in jedem Alter und in jedem Fall. Aber in der Sekundarstufe, der Berufsbildung, im Gymnasium und an der Uni ist es weit verbreitet. In der Schule geht es noch immer um Selektion und Kontrolle. Alles hängt an den Noten, die für das weiterführende Leben aber nutzlos sind. Und in der Weiterbildung geht es vor allem um Zertifikate, die beruflichen Aufstieg versprechen, was in Zukunft aber nicht mehr stimmt.

zentralplus: Zumindest in der Primarschule ist man davon weggekommen. Viele alternative Lernmodelle haben Einzug gehalten, weg vom Frontalunterricht, hin zum selbstverantworteten Lernen. Das ist doch etwas?
Schmitt: Das gibt es, ja. Das Problem ist aber immer noch, dass wir Wissenslogistik betreiben – auch wenn es natürlich humanisierte Formen gibt. So wie man Milch, Käse und Mineralwasser durch die Gegend fährt, fahren wir in der Bildung Wissen herum. Das ist jetzt wieder so ein Bild. Ein Paradigmenwechsel wäre erst dann erreicht, wenn das Schulsystem mit der Wissenslogistik aufhört. Das wird doch heute durch Technologie abgedeckt. Wir sind im 21. Jahrhundert und dürfen unser Gehirn für anderes nutzen.

zentralplus: Wie soll das gehen, wenn schon ein Lehrplan 21 zeigt, dass eine Vereinheitlichung in der Schweiz ein Ding der Unmöglichkeit ist? Es bräuchte ein komplett neues Bildungssystem.
Schmitt: Ja, das wäre tatsächlich ein neues Bildungssystem und da scheiden sich die Geister enorm. Man weiss nicht genau, wo die Ursachen liegen, warum es nicht vorwärtsgeht. Ist das ein politisches Problem oder ein finanzielles? Ich weiss es nicht. Das ist eine sehr komplexe Fragestellung, wieso das mit dem Bildungssystem so zäh und träge läuft. Womöglich hat dieser Totstellreflex mit Angst zu tun.

zentralplus: Gibt es denn Vorbilder, die es besser machen?
Schmitt: Zum Glück! Durch die Digitalisierung der Kommunikation treffen sich heute Menschen, die es anders machen wollen, viel schneller. Du findest immer mehr Angebote im Internet, wo du dich Freilernern und Selbstlernern und dem sogenannten «Deschooling» anschliessen kannst. Es gibt mittlerweile tolle Angebote, wenn ich meine Kinder aus der klassischen Schule rausnehmen will und alternative Bildungswege suche. In der Schweiz leider noch nicht, in Deutschland wachsen sie ganz langsam.

zentralplus: Sie wollen das heutige Unterrichtsmodell, bei dem ein Lehrer vor die Klasse steht, abschaffen?
Schmitt: Jawohl, das ist das Erste, was in den nächsten fünf bis zehn Jahren wegfallen wird. Das klassische Unterrichtsmodell gibt’s in zehn Jahren nicht mehr. Alle ernst zu nehmenden Berichte oder Dokumentationen – von der formalen Bildung bis in die Weiterbildung – weisen in diese Richtung, alle. Sämtliche Tätigkeiten, durch die sich der Lehrerberuf heute noch definiert – die sogenannten «Lower Skills» der Wissensvermittlung –, werden ja schon heute von Maschinen übernommen. Und die «Higher Skills», vor denen die Lehrer heute noch Angst haben – das Begleiten, Tutoring und Coaching –, werden im Fokus des Lehrerberufs stehen.

zentralplus: Maschinen nehmen den Lehrpersonen die mühsame Arbeit weg und man kann sich auf das Wesentliche konzentrieren?
Schmitt: Ja, positiv ausgedrückt. Für andere ist es das Mühsame. Dabei ist es doch das, was mir am Bildungsberuf so Spass macht. Ich will die Leute in der Kompetenzentwicklung und in der Selbstwirksamkeit begleiten. Aber ich verstehe es, wenn Lehrpersonen völlig überfordert sind mit diesen Ansprüchen, sie kennen nur das Traditionelle. Es ist empirisch erwiesen: Sobald Lehrpersonen in Konfliktsituationen kommen, fallen sie zurück in archaische Verhaltensmuster, die sie selber als Schüler erlebt haben.

zentralplus: Wer ist gefordert: Politik, Hochschulen, Schulleiter oder die Lehrer selbst?
Schmitt: Der nächste Schritt müsste sein, unterschiedliche Akteure an einen Tisch zu bringen. Hochschulen, Bildungsdepartemente, Schulen, aber auch Leute aus der Wirtschaft. Was braucht es eigentlich, um die Gesellschaft der Zukunft gestalten zu können? Was braucht es in der Wirtschaft in Zukunft für Arbeitskräfte? Wie wird sich Arbeit entwickeln? Das gelingt uns nur über einen langfristig angelegten Dialog aller Akteure.

zentralplus: Kommt dann nicht der Vorwurf, dass sich Bildung dem Diktat der Wirtschaft beugt?
Schmitt: Ich denke, das ist kein gutes Argument. Das sind Horrorszenarien, die in der Bildungswelt entstehen, wenn man irrationale Ängste hat vor der bösen Wirtschaftswelt. Denn die wichtigen Kompetenzen werden ja in der Wirtschaft gebraucht: soziale Kompetenzen, im Team arbeiten können, vernetzt arbeiten können, gesellschaftliche Verantwortung. Jeder ernst zu nehmende Betrieb fördert das heute, weil er sonst keine Arbeitnehmer findet. Es ist Schwarz-Weiss-Malerei, wenn man sagt, die Wirtschaft reduziere die Menschen auf ökonomisch bedingte Kompetenzen und so Zeugs, das stimmt einfach nicht.

zentralplus: Nach Ihrer Einschätzung: Ist dieses Denken schon in der Lehrerausbildung angekommen?
Schmitt: Tatsache ist, dass eine PH wie die in Luzern in einem Teufelskreis steckt. Sie muss nach wie vor Lehrpersonen ausbilden, die im jetzigen Schulsystem kompatibel sind. Und umgekehrt: Solange sich in der Lehrerausbildung nur wenig ändert, kann sich auch im Schulsystem nichts ändern. Darum brauchen wir einen starken Dialog, und den sehe ich im Moment nicht.

zentralplus: Die Automatisierung und Digitalisierung betrifft ja nicht nur die Bildung, sondern die ganze Berufswelt: Wir wissen noch nicht, welche Berufe in 50 Jahren gefragt sind.
Schmitt: Oder in zehn. In der beruflichen Weiterbildung haben wir ein grosses Problem. Die sind, das weiss ich aus eigener Erfahrung, sehr weit weg von alternativen Bildungsmodellen, die funktionieren noch ganz klassisch im Sinne von Wissenslogistik und über Präsenz-Lernsysteme: Freitag und Samstag gehst du in irgendeinen Seminarraum und «lernst», bis du den Fötzel bekommst. Und das allermeiste, was wir heute in den Weiterbildungen machen, ist für Berufe, die es in zehn Jahren nicht mehr gibt.

zentralplus: Was Sie beschreiben, würde ja auch bedeuten, dass man die Schule mit ihren Strukturen aufgibt. Aber regelmässige Strukturen sind doch gerade in der Primarschule wichtig.
Schmitt: Ich habe mich in letzter Zeit mit Biografien von Menschen beschäftigt, die nie in der Schule waren. Und sie sagen, es seien Gerüchte, dass die Schule entscheidend sei für die soziale Entfaltung. Die Schule braucht diese Argumente, um sich selbst zu rechtfertigen. Die strenge Strukturierung und die Wissenslogistik schon in der Primarschule verhindern, dass sich Menschen menschengerecht entwickeln. Weil ja das Ziel von Schule eben nicht Individualisierung, sondern Anpassung und Unterordnung ist. Das ist das ursprüngliche Ziel von Schule aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Das macht sie immer noch, und das macht sie sehr, sehr gut. Doch wir brauchen Leute, die selber denken.

zentralplus: Aber von den jetzigen Lehrpersonen kann man kaum erwarten, dass sie in Sachen Digitalisierung das notwendige Niveau erreichen. Kommt das nicht automatisch?
Schmitt: Es es gibt ja immer mehr Lehrer, die das Digitale im Unterricht einsetzen. Das Problem ist aber, dass viele die «Bulimiepädagogik» einfach digitalisiert weiterführen. Es ist das selbstgesteuerte Lernen, mit dem Lehrer eher Probleme haben. Sie kommen nicht aus ihrer angestammten Aufpasser- und Wissensvermittlerrolle heraus. Dabei ist doch der Mensch, der vor ihnen sitzt, verantwortlich für sein Lernen – und nicht der Lehrer.

zentralplus: Wie sieht aus Ihrer Sicht ein zeitgemässes Bildungsformat aus?
Schmitt: Es gibt minimale Präsenzzeiten und es läuft ganz viel in digital vernetzten Lernräumen. Man eignet sich Wissen kollaborativ an, mithilfe von sozialen Medien, stark vernetzt mit dem, was man im Beruf macht. Es gibt nicht mehr entweder Schaffen oder Lernen, die neuen Bildungsformate sind eine Mischung aus betrieblicher Weiterbildung und Weiterbildung beim Anbieter. Viel erfolgreiche Weiterbildung läuft am Arbeitsplatz. Du lernst viel effizienter, wenn es gleichzeitig auch ein Teil deiner Arbeit ist.

zentralplus: Was sind die Herausforderungen für den Bildungsstandort Luzern?
Schmitt: Transparenz finde ich ganz wichtig. Die Leute müssen wissen, was läuft. Eigentlich geht es gar nicht mehr, sich in sein immobiles Lernen einzuschliessen. Je digitaler die Welt, desto offener die Kommunikation. Wenn man heute innovativ in der Bildung unterwegs ist, muss man das kommunizieren, und zwar auf eine hochprofessionelle Weise. Diese Marktkommunikation muss man professionalisieren, das finde ich entscheidend. Und Schulen müssen in den digitalen Netzwerken aktiv sein, nicht einfach präsent. Das ist schlicht und einfach die Art, wie man heute existiert. Wenn du digital nicht wahrgenommen und gefunden wirst, dann existierst du nicht.

zentralplus: Ist es nicht gefährlich, die Primarschule zu früh mit der digitalen Welt zu konfrontieren?
Schmitt: (Überlegt) Das heisst, man lässt die Storen runter, damit die Sonne nicht reinscheint? Sie scheint zwar, aber die Kinder sollen sie nicht sehen. Das ist so, als ob man die Wirklichkeit ausschaltet, wir schalten die digitale Wirklichkeit einfach ab, weil wir irgendwie davon überzeugt sind, dass das den Kindern schadet, auch wenn die Neurobiologie was anderes sagt. Ob ich aber damit dem Kind nutze oder nur meiner eigenen Ideologie?

zentralplus: Es scheint, Sie haben ein extremes Vertrauen in Kinder und Jugendliche.
Schmitt: Ja, sicher, Kinder sowieso, in wen denn sonst? Ich hab das an der Kanti Alpenquai erlebt, was in denen drinsteckt an Kompetenzen, die sie gnadenlos entfalten, inklusive allem Sozialen, wenn man sie nur lässt! Wenn man sie lässt!

Christoph Schmitt (1964) wuchs in der Bodenseeregion auf, hat Pädagogik, Philosophie, Psychologie, Soziologie und Theologie studiert und in Ethik promoviert. Er war einst Sprecher des «Wort zum Sonntag» und war 20 Jahre lang in Schule und Hochschule tätig. Er hat an der Kantonsschule Alpenquai Religionskunde und Ethik unterrichtet, war Dozent an der Universität Luzern sowie Rektor des Gymnasiums Immensee (SZ). Heute ist er selbstständig in Coaching und Supervision in Baar, ist Autor («Bildung auf Augenhöhe») und arbeitet freiberuflich als Dozent.


2 Kommentare:

  1. "Wenn man Kinder nur lässt" ist ein Relikt aus der gescheiterten "Antiautoritären Erziehung" des letzten Jahrhunderts. Der Lehrplan 21 greift diese Reformmethode wieder auf und ist damit alles andere als zeitgemäss. Gemäss John Hattie und anderen modernen Bildungsforschern braucht es einen strukturierten und lehrerzentrierten Unterricht. Unterricht und Lehrer sollen mit dem Lehrplan 21 aber faktisch abgeschafft werden. So sehen die „Grundlagen für den Lehrplan 21“ der D-EDK vor, dass die Kinder schon ab Schulstart „selbstorganisiert oder selbstgesteuert lernen“ und die Lehrer sich darauf beschränken sollen, lediglich als „Lernbegleiter“ zur Verfügung zu stehen. Damit droht der qualifizierte Lehrerberuf auszusterben und die Bildungsqualität massiv zu sinken.

    Schweizer Kinderärzte warnen in ihrer Verbandszeitung 01/2016 vor den möglichen Folgen: «Unsere Skepsis gegenüber dem selbstorganisierten Lernen in den ersten Schuljahren beruht auf der neurophysiologischen Tatsache, dass die dafür erforderlichen exekutiven Funktionen spät reifen und erst mit 20 Jahren voll ausgebildet sind. Selbstorganisiertes Lernen im eigentlichen Sinn ist deshalb erst im höheren Schulalter und in der Erwachsenenbildung möglich.»

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