4. November 2015

Kostenexplosion bei integrativer Schulung

Auffällige Kinder in Regel-Klassen einzugliedern, statt sie zu separieren, ist alles andere als kostenneutral.
















Mehr Lehrer im Klassenzimmer kosten viel Geld, Bild: Keystone
Integrative Schulung treibt Kosten hoch, Basellandschaftliche Zeitung, 4.11. von Andreas Hirsbrunner


Ein heisses Eisen fasste kürzlich der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes Baselland, Martin Brunner, an: In einem Aufsatz in einer Fachzeitschrift schrieb er, dass die Kosten bei der integrativen (Sonder-)Schulung in praktisch der ganzen Deutschschweiz stark angestiegen seien, ohne dass parallel dazu diejenigen «in separativen Settings» im gleichen Umfang zurückgegangen wären. Bei der Einrichtung der integrativen Schule sei man aber davon ausgegangen, dass die separativen Klein- und Sonderklassen äquivalent ersetzt würden. Brunner: «Eine mechanische Gleichgewichtsvorstellung lag zugrunde: hier Aufbau, dort Abbau. Ausdruck dieser Haltung war die Annahme, dieser Umbau könne kostenneutral erfolgen.»

Dabei sei jedoch massiv unterschätzt worden, dass der Ersatz des unbeliebten separativen durch das akzeptierte integrative Angebot zusätzliche Förderbedürfnisse auslöse. Zudem sei eine «neue Population in die Förderung gespült» worden – Kinder, deren Eltern separative Angebote abgelehnt hatten, obschon die Kinder Förderung dringend benötigt hätten. Ebenfalls stimulierend auf die Förderbedürfnisse wirke sich aus, dass von der Schule verlangt werde, mehr Wissen zu vermitteln. Gleichzeitig hätten Eltern zunehmend den Anspruch, dass ihre Kinder mindestens das Sekundarschulniveau E erreichen.

Mehr Sonderschüler
Wie sieht nun die Situation im Baselbiet im Detail aus? Unterscheiden muss man zuerst einmal die Sonderschulung und die Spezielle Förderung, wobei beiden Angeboten gemeinsam ist, dass es eine integrative (eingliedernde) und eine separative (trennende) Variante gibt. Auf integrative Sonderschulung haben Schüler mit einer Behinderung sowie mit einer Verhaltensauffälligkeit wie etwa Autismus Anspruch, sofern dies dem Wohl des Kindes entspricht und mit der Schulorganisation vereinbar ist. Dabei wird in Einzelintegration und Gruppenintegration unterschieden.

Bei der Einzelintegration erhalten die Schüler wöchentlich sechs bis acht Stunden Einzelunterstützung, während sie den Rest des Unterrichts in der Regel-Klasse verbringen. Bei der Gruppenintegration werden durchschnittlich vier Kinder als Gruppe in einer Klasse integriert und zusätzlich zur normalen Lehrkraft von einem Vollzeit-Heilpädagogen samt Assistenz begleitet.

Die Zahlen dieser integrativen Sonderschulung haben nun im Kanton in der Tat stark zugenommen, wie eine Zusammenstellung der Bildungsdirektion zeigt: Vor zehn Jahren kamen 32 Schüler in deren Genuss, im laufenden Schuljahr sind es 273. Parallel dazu sank die Zahl der Schüler in der separativen Sonderschulung im gleichen Zeitraum von 486 auf aktuell 387. Darunter fallen jene Kinder, die die heilpädagogischen Schulen in Liestal und Münchenstein, die Sprachheilschule in Riehen, den Sonnenhof in Arlesheim, die Leiern in Gelterkinden und das Therapieund Schulungszentrum in Münchenstein besuchen. Im Verhältnis zur Gesamtschü- lerzahl in der Volksschule (Kindergarten, Primar- und Sekundarschule I) ist damit der Anteil der Sonderschulung seit 2006 von 1,7 auf 2,3 Prozent gestiegen.

Überraschenderweise sagt aber Marianne Stöckli, die in der Bildungsdirektion die Abteilung Sonderpädagogik leitet, dazu: «Was Martin Brunner zum Kostenanstieg bei der Sonderschulung schreibt, gilt wohl für etliche Kantone, aber nicht für Baselland. Bei uns sind die Kosten für die Sonderschulung mit jährlich 46 Millionen Franken seit langem konstant.» Einzig im Schuljahr 2011/2012 seien sie nach oben ausgerissen. Grund für die Konstanz trotz steigender Schülerzahlen ist laut Stöckli, dass die Kosten bei der integrativen Form pro Kind günstiger sind als bei der separativen. Und im «Ausreisser-Jahr» habe man umgehend reagiert und eine «neue Säule» aufgebaut: «Der starke Anstieg der verhaltensauffälligen Kinder rief uns auf den Plan, dass wir etwas machen müssen. Deshalb haben wir die Spezielle Förderung ausgebaut.»

Spezielle Förderung explodiert
Innerhalb dieser Speziellen Förderung gehören Integrative Schulungsform ISF, Begabungsförderung und Deutsch als Zweitsprache zur integrativen und Einführungs-, Klein- und Integrationsklasse für Fremdsprachige, Werkjahr sowie der verordnete Privatschulbesuch zur separativen Form. Und auch bei der Speziellen Förderung zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei der Sonderschulung: Die 2006 eingeführte integrative Form ist in der Volksschule mittlerweile auf 5996 Schüler explodiert, während die separative Form auf 1176 Schüler gesunken ist, was noch halb so viele sind wie vor zehn Jahren.

Was heisst das nun bezüglich Kosten? Die Bildungsdirektion kennt aufgrund der Finanzzuständigkeit nur die Aufwendungen der Sekundarstufe. Und die sind in den letzten drei Jahren um einen Drittel auf rund acht Millionen Franken jährlich gestiegen. Was aber die spezielle Förderung in Kindergarten und Primarschule kostet, darüber gibt es keine Übersicht, weil dafür die einzelnen Gemeinden zuständig sind. Zusammengetragen hat diese Zahlen laut dem Verband Basellandschaftlicher Gemeinden bisher niemand. Doch die Kosten dürften auf dieser Stufe um einiges höher liegen, da fast ein Drittel aller Kindergärtler und Primarschüler Spezielle Förderung in Anspruch nimmt, während es auf der Sekundarstufe I nur knapp zwölf Prozent der Schüler sind.


Somit lässt sich Brunners Aussage, dass die Entwicklung von der separativen zur integrativen Schulung in der Volksschule zu einer Kostenexplosion geführt hat, fürs Baselbiet nur bedingt mit Zahlen unterlegen. Dass Brunner aber recht hat, daran zweifelt niemand.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen