19. Oktober 2015

Zusätzliche Entlastung erst ab 2016 verfügbar

Die 2014 vom Zürcher Stimmvolk bewilligten zusätzlichen 100 Lehrerstellen für grosse und schwierige Klassen sind erst ab 2016 verfügbar. Politiker und Lehrer sind verärgert. Die Nachfrage sei bescheiden, rechtfertigt sich das Volksschulamt.













"Wir sind bis jetzt mit den budgetierten Poolstellen gut über die Runden gekommen", Bild Keystone
Verzögerung überrascht und irritiert, Landbote, 16.10. von Thomas Schraner

Bildungsdirektorin Regine Aeppli (SP) freute sich am 30. November 2014 vor den Medien, als sie das Ja des Volkes zum kantonsrätlichen Gegenvorschlag zur EVP- Klassengrössenin­itia­ti­ve kommentierte. Die Emotion war politisch unkorrekt, weil die Regierung die Nein-Parole gefasst hatte. Auf mehr Beachtung stiess Aepplis Aussage, die Umsetzung der Vorlage sei problemlos. Die Befürworter, alle Parteien ausser SVP und FDP, erwarteten deshalb, dass die Vorlage unverzüglich in Kraft gesetzt werde. Wenn nicht gleich auf Anfang 2015, dann wenigstens auf den Beginn des neuen Schuljahres im August.
Sie täuschten sich – und reagierten irritiert und enttäuscht, als sie diese Woche erstmals erfuhren, dass die Vorlage noch nicht in Kraft ist. Ab Beginn des nächsten Jahres soll das der Fall sein, teilte Martin Wendelspiess, Chef des Volksschulamtes, gestern auf Anfrage mit. Den Beschluss fasste die Regierung – in neuer Zusammensetzung – bereits im Juni, kommunizierte ihn aber nicht aktiv, weshalb niemand davon wusste.
«Ich bin schon sehr erstaunt», sagt Sekundarlehrer und GLP-Kantonsrat Christoph Ziegler, Gemeindepräsident in Elgg. Dass es nicht auf Anfang Jahr gereicht habe, könne er nachvollziehen, aber er sei davon ausgegangen, dass die Vorlage diesen August in Kraft getreten sei. Erstaunt zeigen sich auch SP-Kantonsrat Moritz Spillmann, Gymilehrer und Präsident der Kommission Bildung und ­Kultur (KBIK), sowie Johannes Zollinger, EVP-Kantonsrat und Schulpräsident in Wädenswil. Sie alle und ebenso der Vizepräsident des Zürcher Lehrerverbandes (ZLV), Kurt Willi, Lehrer in Wetzikon, lebten in der Annahme, die Vorlage sei nun in Kraft.

Kosten nicht im Budget
Wendelspiess begründet den von der Regierung gewählten Termin so: Die Gemeinden und der Kanton hätten zum Zeitpunkt der Abstimmung ihre Budgets bereits gemacht. Die zusätzlichen Ausgaben, welche die Vorlage nach sich zieht, hätten deshalb nicht ein­geplant werden können – auch nicht, wenn man den August-Termin ins Auge gefasst hätte.
Die Kosten der Vorlage waren im Abstimmungskampf mit 15 Millionen Franken pro Jahr beziffert worden. Diese fallen zu 80 Prozent bei den Gemeinden und zu 20 Prozent beim Kanton an. Die Mehrkosten entstehen, weil das Volk Ende November 2014 ­beschlossen hat, den bereits ­bestehenden Lehrerstellenpool um 100 Stellen aufzustocken. Der Pool soll neu also 260 Stellen umfassen statt 160 wie heute. Die zusätzlichen Lehrkräfte sind gedacht als «Feuerwehr» für Gemeinden mit grossen und schwierigen Klassen. Um dar­auf zugreifen zu können, müssen die Gemeinden einen Antrag ans Volksschulamt stellen. Dieses bewilligt das Gesuch oder lehnt es ab.
Nebst den budgettechnischen Gründen führt Wendelspiess noch ein anderes Argument für die Verzögerung ins Feld: «Wir stellen fest, dass die Nachfrage nach zusätzlichen Vollzeitlehrerstellen zurzeit schwach ist.» Das hänge mit dem Spardruck in den Gemeinden zusammen, die ja den Löwenanteil der Lehrerstellen berappen müssen. Diese hätten sich zudem über die Jahre daran gewöhnt, mit den regulär zugeteilten Vollzeitstellen auszukommen. «Wir sind bis jetzt mit den bereits budgetierten regulären 160 Poolstellen gut über die Runden gekommen», sagt Wendelspiess.

Abgelehnte Gesuche
Die Aussage, wonach die Nachfrage schwach sein soll, lässt Sekundarlehrer Ziegler aufhorchen. «Dann verstehe ich noch weniger, dass unser Gesuch abgelehnt worden ist.» Die Gemeinde Elgg beantragte beim Volksschulamt eine zusätzliche Lehrperson, um aufgrund der Schülerzahlen eine zusätzliche dritte Klasse führen zu können. Mit einer für die Elgger Schulbehörden offenbar undurchsichtigen Begründung sei der Antrag abgelehnt worden. «Dabei wäre der Pool doch genau für solche Fälle wie bei uns gedacht», ärgert sich Ziegler. Jetzt muss man in Elgg improvisieren. Für einige Fächer bildet man zwei grosse Klassen, für andere drei.
Schulpräsident Zollinger berichtet von einem ähnlichen Fall in seiner Gemeinde. Weil ein Kindergarten ein hirnverletztes Kind zu betreuen hatte, habe man ein Entlastungsgesuch gestellt. «Das Volksschulamt hat verständnisvoll reagiert und den Bedarf für ausgewiesen beurteilt, aber dennoch eine abschlägige Antwort erteilt.» Die Gemeinde hat die Assistenz trotzdem angestellt, muss sie nun aber vollständig aus dem eigenen Sack bezahlen.
Dass der Spardruck in den Gemeinden die Nachfrage nach Poolstellen tatsächlich bremsen kann, zeigt sich in Winterthur. Einer stadträtlichen Antwort auf eine parlamentarische Anfrage ist zu entnehmen, dass man in Winterthur aus Kostengründen möglichst auf Poolstellen verzichten und sich mit organisatorischen Massnahmen behelfen will. Das ist allerdings nur in grossen Gemeinden mit vielen Schulklassen möglich. Kleine haben hier kaum Spielraum.
Die Nachfrage nach Poolstellen könnte allenfalls durch Flüchtlingskinder verstärkt werden. Laut Wendelspiess wäre das dann der Fall, wenn die Schweiz von einem starken Flüchtlingsstrom erfasst würde. Die Flüchtlingskrise sei noch nicht stark spürbar an den Zürcher Schulen. Das war während der Balkankrise Ende der 90er-Jahre anders. Der Kanton Zürich richtete damals eigens Flüchtlingsklassen mit zweisprachigem Unterricht ein und rekrutierte entsprechende Lehrkräfte. Ein solches Projekt wäre laut Wendelspiess heute schwieriger wegen der Vielsprachigkeit. Der Grossteil der Flüchtlinge stammt aus Eritrea, Afghanistan und Syrien. Lehrkräfte, die diese Sprache sprechen, wären zurzeit gar nicht verfügbar.

Einheitliche Kriterien
Das Volksschulamt befasst sich derzeit damit, die Kriterien für die Bewilligung von Poolstellen zu definieren, damit die Gesuche aus den Gemeinden einheitlich beurteilt werden können. Die Kriterien sind laut Wendelspiess mit Schulbehörden und Schul­leitungen diskutiert worden. Geplant sei, die Schulen und Gemeinden direkt zu informieren, wenn die 100 zusätzlichen Lehrerstellen zur Verfügung stehen.


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