19. Oktober 2015

Pichards Erfahrungen mit Frühfranzösisch

Kurz vor Schulbeginn blätterte ich die Anmeldungen für unseren traditionellen Französischaustausch mit unserer Partnerschule in Monthey im Kanton Wallis durch. Vier Tage verbringen unsere Schüler bei ihren welschen Kollegen und beherbergen diese ebenso lange bei sich. Ausserdem besuchen sie jeweils den Unterricht in den beiden Schulen, schreiben sich vorher mehrere Briefe und absolvieren zu zweit einen Postenlauf. An einem Samstag im Januar fahren die Eltern mit ihren Zöglingen und den Lehrkräften ins Wallis, wo sie von den Eltern der Partnerkinder empfangen werden. Dies ist ein grosser Anlass, der die Leute zusammenbringt. Auch wir Lehrkräfte kennen uns mittlerweile und freuen uns schon jetzt auf das Wiedersehen.
Schüler mit Wörtlitests zu prüfen, ist nicht kinderfeindlich, Berner Zeitung, 14.10. von Alain Pichard


In wenigen Fällen geht dieser Austausch schief, in den meisten profitieren unsere Lernenden aber ungemein von dieser Begegnung. Und manchmal entstehen sogar Freundschaften fürs Leben, gehen die Familien zum Beispiel gemeinsam in die Skiferien.

Die Rahmenbedingungen sind diesmal anders, denn meine 7.-Klässler haben vier statt zweier Jahre Französisch hinter sich und sind mit einer völlig neuen Fremdsprachendidaktik unterrichtet worden. Das Französischlehrmittel «Mille Feuilles» setzt auf pädagogisch hoch im Kurs stehende «gute» Begriffe wie Sprachbad, mündliche Kompetenz, Plurilingualismus, Selbststeuerung und Konstruktivismus. Verpönt sind dagegen die pädagogisch «bösen» Begriffe wie Grammatik lernen und Vocabulaire-Teste.

Ich habe mir grosse Hoffnungen gemacht, denn nach Prognosen der Lehrmittelmacher habe ich es heuer mit mutigen und der französischen Sprache gegenüber aufgeschlossenen jungen Menschen zu tun, welche die Sprache spielerisch und ohne Druck erlernt haben.

Es war für mich ernüchternd, als ich feststellte, dass die Schüler nicht wussten, dass man «au» als «o» ausspricht oder «ou» als «u». Gestaunt habe ich, dass ich mit meinen Schülerinnen und Schülern zwar komplexe Texte über Erfindungen der Zukunft lesen sollte, diese aber nicht wussten, was «gestern», «heute» und «morgen» auf Französisch heisst – wohlgemerkt, nicht schriftlich, sondern mündlich. Uns wurde bald klar, dass wir heuer auf unseren französisch geschriebenen Brief verzichten müssen, den wir unseren Partnern jeweils im Oktober schreiben. Die Walliser werden erstmals ein deutsches Schreiben erhalten.

Und nun das: Noch nie haben sich so viele Schüler von diesem Austausch abgemeldet. Waren es in den vergangenen Jahren immer die obligaten zwei bis drei Schüler pro Klasse, die nicht am Austausch teilgenommen hatten, so hat heuer mehr als ein Viertel der Schülerinnen und Schüler bekundet, daran nicht teilnehmen zu wollen.

Das liessen wir Lehrkräfte natürlich nicht auf uns sitzen. Wir versuchten zu überzeugen, telefonierten und verlangten eine schriftliche Begründung. Eine Mutter schrieb unserem Schulleiter daraufhin eine bemerkenswerte Erklärung: «Mein Sohn hat in den vergangenen vier Jahren so wenig Französisch gelernt, dass ich ihm diese Erfahrung ersparen möchte!»

Fazit: Bereits die Einführung von Frühfranzösisch hat uns mit über 43 Millionen Franken horrende Kosten beschert. «Mille Feuilles» wird als teuerstes Lehrmittel in die Geschichte eingehen. Was für den Verlag ein Riesengeschäft ist, ist für die Gemeinden ein Riesenproblem. «Mille Feuilles» ist ein überteurer, frivol nicht fundierter Pioniergeist.

Und wir Praktiker verhalten uns, und das ist eigentlich die Ironie an der ganzen Geschichte, konstruktivistisch. Wir suchen Lösungen aus dem Schlamassel, bauen eigene strukturelle Gerüste auf und nehmen uns Freiheiten bis zum Ungehorsam.

Ich werde, wenn man mich denn lässt, Französisch so unterrichten, wie im englischen Sprachraum das Englische unterrichtet wird. Lebensnah, mit Schwerpunkt auf Kommunikation, aber auch mit Grammatik, Wörtlitests, einem strukturellen Aufbau und jeder Menge Schweiss. Am Schluss werde ich meine Zöglinge in jede gewünschte Evaluation schicken. Ich bitte alle Leute, die mich in die konservative Ecke stellen wollen, meinen Unterricht zu begutachten. Eine Anmeldung ist nicht nötig. Man darf meine Schüler ruhig auch zu ihrer Befindlichkeit befragen. Denn Schüler mit Wörtlitests zu prüfen, ist nicht kinderfeindlich, im Gegenteil.


Es ist allerdings zu befürchten, dass die Behörden mir nicht das Vertrauen schenken, das ich von den Eltern erhalte. Und so wird man einen Leistungsvergleich am Schluss der drei Jahre vermutlich verhindern. Die Rückmeldungen in meiner Klasse sind jedenfalls ermutigend. Ein Schüler sagte mir: «Endlich lernen wir mal was!» 

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