4. Oktober 2015

Die hauchdünne Grenze zwischen Jugendschutz und Paranoia

Wie ermöglicht man es Männern, in einem Umfeld mit Kindern beruflich tätig zu sein? Der Leiter des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich sagt es so: "Am Schluss werden nur noch Männer Lehrer, die es auf keinen Fall werden sollten - jene, die sich aus den falschen Gründen für Kinder interessieren.












Männer verabschieden sich aus der Erziehung, Bild: Getty Images
Pädophilie: Der allzu schnelle Verdacht, Beobachter, 2.10. von Susanne Loacker


Es hatte alles so gut angefangen. Der Sportverein fand endlich einen Sponsor. Und erst noch einen wirklich engagierten: Der Mittfünfziger investierte Geld in den Verein, suchte den Kontakt zu den Mannschaften, besuchte alle Spiele und kam selbst zu den Trainings. Mit der Zeit begann er sogar, selber Trainings zu leiten. Und als es der Mutter eines ­Juniors finanziell schlecht ging, unterstützte er sie und engagierte sich in der Betreuung des Jungen. Irgendwann lud er ihn zum Übernachten zu sich nach Hause ein.

Als der Verein Verdacht schöpfte und die Staatsanwaltschaft einschaltete, stellte sich heraus, dass der Sponsor ein verurteilter Sexualstraftäter war. «Viele Täter behaupten, die Tat sei spontan erfolgt. Die Täterforschung zeigt jedoch, dass die meisten systematisch vorgehen und den Übergriff langfristig planen», erklärt Christiane Weinand von der Fachstelle Mira zur Prävention sexueller Gewalt. «Täter suchen nach der Gelegenheit. Dazu manipulieren sie das Umfeld der potenziellen Opfer und versuchen, sich das Vertrauen jener Personen zu erschleichen, die das Kind schützen.»

Fälle wie jener des Sponsors, die sich über Jahre hinziehen, zeigen, wie schwierig Prävention im Alltag ist. «Natürlich interessiert keinen Pädo­sexuellen, was in unseren Broschüren steht», sagt Erika Haltiner von der Fachstelle Limita zur Prävention sexueller Gewalt. «Daher müssen wir versuchen, in den Vereinen ein Klima der Aufmerksamkeit und der Gesprächsbereitschaft zu schaffen.» Potenzielle Täter sollen merken: Hier schaut man hin, hier spricht man die Probleme an.
Aber traut man sich das im Ernstfall wirklich? Zudem: Manchmal ist die Linie zwischen Jugendschutz und Paranoia hauchdünn. Es stellen sich heikle Fragen: Wie schützt man Kinder vor Pädosexuellen, ohne alle Männer unter Generalverdacht zu stellen? Und: Wie ermöglicht man es Männern, in einem Umfeld mit Kindern beruflich tätig zu sein?

«Man muss sich inzwischen ernsthaft fragen, ob wir uns eine Gesellschaft leisten können, in der sich Männer aus der Erziehung verabschieden. Genau das passiert im Moment – mit allen Konsequenzen», sagt Jérôme Endrass, stellvertretender Leiter des Psychia­trisch-Psychologischen Dienstes im Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich. «Das führt nicht nur dazu, dass den Kindern männliche Rollenvorbilder fehlten. Pädophile profitieren sogar vom Rückzug der Männer aus der Erziehung.»
Erfahrungsgemäss verliere eine Tätigkeit, die als Frauenberuf wahr­genommen werde, für Männer an Attraktivität. «Am Schluss werden nur noch Männer Lehrer, die es auf keinen Fall werden sollten – jene, die sich aus den falschen Gründen für Kinder interessieren.» Dabei sei ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis meist von Vorteil – erst recht in der Erziehung.

Zur Umsetzung konkreter Präventionsmassnahmen fehle nicht nur Geld – sondern auch eine nationale Strategie, so Experte Endrass. Deshalb beauftragte der Bund vor einigen Jahren die Stiftung Kinderschutz Schweiz, ein Konzept zu erarbeiten. Bei der Prüfung habe sich jedoch gezeigt, dass die Handlungsmöglichkeiten des Bundes begrenzt seien, sagt Eveline Zur­briggen, beim Bundesamt für Sozialversicherungen zuständig für Kinder- und Jugendfragen. Denn der zivilrechtliche Kinderschutz ist gemäss Verfassung Aufgabe der Kantone und Gemeinden.

Und die tun nicht genug. Am Ende stehen die Sportvereine verloren da. Sie müssen einen wirkungsvollen Kinderschutz organisieren. Das gelinge jedoch nur, wenn sie wissen, welche Massnahmen sie ergreifen sollen. Für die Berner Sexualpädagogin Chris­tiane Weinand ist klar: «Die meisten Vereine und Verbände können diese Herkulesaufgabe nicht allein stemmen. Trainer brauchen Unterstützung, auch zum Schutz vor falschen Beschuldigungen.»

Jérôme Endrass plädiert dafür, die Sache «mit gesundem Menschenverstand» anzugehen: «Es sollte das Prinzip gelten, dass jederzeit Dritte dabei sein dürfen. Sobald ein Kontakt zwischen Erwachsenem und Kind sehr privat wird, besteht die Gefahr eines Übergriffs. Gleichzeitig muss es möglich sein, das Thema niederschwellig anzusprechen und Kontakte auf unaufgeregte Art zu normalisieren.» Will heissen: achtgeben, ohne paranoid zu werden; aufpassen, ohne Männer unter Generalverdacht zu stellen. Dennoch bleiben für den einzelnen Trainer oder Lehrer viele Unsicherheiten.

Wer tröstet die weinende Schülerin?
Es ist die letzte Schulstunde vor den Ferien, Biologieunterricht. Peter Rauh* sieht mit seiner Klasse einen Tierfilm an. Plötzlich stürmt die zwölfjährige Milena* aus dem Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu. Rauh bleibt verdutzt zurück: Hat er etwas verpasst?

Er findet Milena im Gang auf einer Bank sitzend. Sie schluchzt. Rauh, selber Vater einer Tochter, möchte das Mädchen am liebsten in den Arm nehmen und ihr Trost spenden. Doch als er sich neben die Schülerin setzen will, hält ihn ein Gedanke zurück: «Was, wenn sie zu Hause erzählt, ich hätte sie berührt?» Rückblickend sagt er: «Ich war blockiert und hatte gleichzeitig eine Wut auf mich, weil ich nicht einfach wie ein normaler Mensch reagiert habe.»

Schliesslich setzt sich Rauh neben das Mädchen und fragt, was los sei. Milena schluchzt, ihr Hündchen sei überfahren worden. Wieder verbietet sich der Lehrer, den Arm tröstend um die Schultern des Mädchens zu legen. «Ich bin Lehrer geworden, weil ich Kinder gern habe», sagt er. Und prä­zisiert sofort: «Also nicht so, wie das jetzt klingt. Aber wenn ich ein weinendes Kind nicht tröste, dann bin ich doch als Lehrer im falschen Job.»

Auch der ehrenamtliche Fussballtrainer Hans Brenner* leidet immer wieder darunter, dass Dinge, die für ihn völlig normal und unverfänglich sind, im Namen des Jugendschutzes eigentlich verboten wären: «Ich trainiere die kleinsten Fussballjunioren. Gemäss Vorschriften dürfte ich nicht allein mit den Kindern in die Kabine. Aber genau dort bin ich gefragt, dort muss ich vor dem Match Anweisungen geben, nach dem Spiel loben, trösten, auch mal Tränen trocknen.» Aber es sei unmöglich, eine Begleitperson ex­tra für die Kabine zu finden. Deshalb sagt Brenner: «Wenn ich die Vorschriften wörtlich nähme, könnte ich diesen Job nicht mehr richtig machen.»

Hans Brenner wundert sich auch, weil er noch genau weiss, wie wenig es damals brauchte, Trainer bei seinem Klub zu werden: «Kaum hatte ich mich gemeldet, hiess es: ‹Super, du kannst gleich anfangen!› Niemand fragte nach Referenzen, niemand kontaktierte die Klubs, bei denen ich früher gearbeitet hatte.» Schon bald kam ein erster Elternabend: «Ich kam mir seltsam vor, hatte das Gefühl, mich vorsorglich rechtfertigen zu müssen, und betonte, dass ich selber drei Kinder habe – als ob das eine Garantie für irgendetwas wäre.»
Christiane Weinand von der Fachstelle Mira kennt solche Schilderungen nur zu gut. «Wenn sich ein Trainer für eine ehrenamtliche oder symbolisch bezahlte Arbeit meldet, sind die Vereine zunächst einmal froh. Das Thema Prävention sexueller Gewalt spielt meist nur eine untergeordnete Rolle – man spricht nicht gern darüber.» Konkrete Präventionsmassnahmen wie eine Selbstverpflichtung oder Sensibilisierungsabende existierten meist nur auf dem Papier. Und: «Genau darauf vertrauen die Täter.»

Hans Brenners Verein macht bei Versa mit, einer Fachstelle zur Verhinderung sexueller Ausbeutung von Kindern im Sport. Er gilt offiziell als «vorbildlicher Verein». Doch solche Labels vermittelten ein falsches Gefühl der Sicherheit, sagt Erika Haltiner von der Fachstelle Limita. «Wir gehen davon aus, dass sich Pädosexuelle gerade dort gern herumtreiben: Wenn ein Verein einmal ein Label trägt, meint man, das Problem im Griff zu haben. Dafür haben Pädosexuelle ein gutes Gespür.»

Verbale Entgleisung ist kein Übergriff
Wie gross der Handlungsbedarf ist und wie viele schwarze Schafe es unter Trainern und Lehrern gibt, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Studien kommen auf extrem unterschiedliche Ergebnisse – manche besagen, dass fast jedes dritte Kind Opfer von Übergriffen werde. Experte Jérôme Endrass hält einen Wert von zehn Prozent für realistisch. Es gehe aber nicht um Zahlen: «Jeder Übergriff ist einer zu viel und hat schreckliche Konsequenzen für das betroffene Kind und seine ganze Familie.» Trotzdem warnt er davor, den Ausdruck Übergriff zu weit zu fassen: «Wer jede verbale Entgleisung als Übergriff bezeichnet, verstellt den Blick auf die wirklich gravierenden Fälle. Und auf genau die sollten wir unsere Energie konzentrieren.»


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen