11. Oktober 2015

Berufslehren sind in Genf die Ausnahme

Für viele Kinder - und vor allem für ihre Eltern - scheint es nur eine Zukunftsperspektive zu geben: die Matura. In Genf ist der Anteil der Lehrlinge der kleinste der Schweiz. Nur 4 Prozent der Jugendlichen entscheiden sich für eine Berufsausbildung. Weniger als jedes zehnte Unternehmen bildet Lehrlinge aus.
Genf lernt die Lehre, NZZaS, 11.10. von Ron Hochuli


Dies liegt zum Teil an der Struktur der Wirtschaft, die in Genf stärker als in jeder anderen Region auf den Dienstleistungssektor ausgerichtet ist - der bekanntlich weniger Lehrlinge einstellt. Zudem hat die Berufsbildung im Grenzkanton einen schlechten Ruf. Dabei spielt eindeutig der Einfluss des grossen Nachbarn eine Rolle: In Frankreich absolvieren über 80 Prozent der Schüler einen Baccalauréat, eine Matura, und es ist im Laufe der Zeit ein gewisser Snobismus gegenüber den Lehrlingen entstanden.
Die Genfer Behörden wollen diese Tendenz umkehren, denn eine Diagnose ist erschreckend: Jeder zweite Schüler entscheidet sich fürs Gymnasium, aber jeder Dritte erreicht die Matura nicht. Das führt dazu, dass bis zu 15 Prozent der Jugendlichen ohne Diplom in die Berufswelt einsteigen. Ihnen droht die Arbeitslosigkeit.
Diese Woche hat der Staatsrat verschiedene Massnahmen verabschiedet und will selbst beispielhaft agieren: Ziel ist es, dass unter dem Personal der Verwaltung und der öffentlichen Unternehmen wie Flughafen, Transportbetriebe oder Elektrizitätswerke mindestens 4 Prozent Lehrlinge arbeiten. Darüber hinaus will man dem privaten Sektor einen Schub geben. Es wird den Unternehmen ein spezielles Coaching angeboten, und die Lehrmeister werden sich am eigenen Arbeitsort ausbilden lassen können. Auch die Bürokratie soll abgebaut werden. Bei öffentlichen Ausschreibungen will man künftig bei den Anbietern viel genauer auf die Anzahl Lehrlinge achten, wodurch ein weiterer Anreiz entstehen soll.
Parallel dazu braucht es bei den Eltern einen Mentalitätswechsel. Nach Ansicht der Genfer Erziehungsdirektorin Anne Emery-Torracinta muss man ihnen klarmachen, dass die Lehre kein Abstellgleis sei; dass es danach die Möglichkeit gebe, eine Berufsmatura zu absolvieren und ein Studium in Angriff zu nehmen. Eigentlich eine Banalität, die aber von vielen noch nicht richtig wahrgenommen wird.

Womöglich zeigt sich hier der Anfang eines kulturellen Wandels. Noch sind es Einzelfälle, aber in letzter Zeit schielen die französischen Behörden in Richtung Schweiz und wollen sich über das System der Berufslehre schlaumachen. Ein System, auf das sie, mit fast 25 Prozent Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich, durchaus neidisch sind.

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