8. Oktober 2015

Berner wollen Lehrplan 21 verhindern

Das Ziel ist klar: Der Lehrplan 21 soll verhindert werden. Doch über den Weg dahin, ist man sich nicht überall einig. Ausserdem steht die Frage im Raum: Kommt die Initiative zu spät?

















Schlecht recherchiert: Die Berner Zeitung blendet den Widerstand in St. Gallen und Graubünden einfach aus, Bild: db
Angriff auf Lehrplan 21, Berner Zeitung, 8.10. von Marius Aschwanden


Lieber spät als nie. Das haben sich wohl die Mitglieder der Interessengemeinschaft für eine starke Volksschule im Kanton Bern gesagt. Das Komitee rund um Rahel Gafner aus Beatenberg hat kürzlich in der «SonntagsZeitung» angekündigt, eine Volksinitiative gegen den Lehrplan 21 zu lancieren.
Ähnliche Bestrebungen sind seit längerer Zeit in fast der Hälfte der 21 Deutschschweizer Kantone im Gang (siehe Grafik). In Bern jedoch blieb es bislang ruhig. «Jetzt ist die Zeit gekommen, eine breite Diskussion in der Bevölkerung anzustossen», sagt Gafner. Aus ihrem wahren Ziel macht sie aber keinen Hehl: «Wir wollen den Lehrplan 21 verhindern.»
Die Kritik der Gruppierung richtet sich gegen die neue Pädagogik. Infrage stellen die Mitglieder das selbst organisierte Lernen, die «Abwertung der Lehrpersonen zu Lerncoachs» oder die Kompetenzorientierung. «Insbesondere schwächere Schüler sind auf einen gut strukturierten und von einer Lehrperson geführten Unterricht angewiesen», so Gafner.

Rückwirkende Initiative
Bezüglich des Wortlauts der Initiative und des weiteren Vorgehens gibt sich die Oberländerin zurückhaltend. Es sei noch zu früh, um an die Öffentlichkeit zu treten. Sie sagt aber: «Der Initiativtext ist mittlerweile ausformuliert.» Konkret wollen die Mitglieder der IG die Kompetenz für die Bewilligung des Lehrplans vom Regierungsrat zum Grossen Rat verschieben. Falls gegen einen solchen Ratsbeschluss jemand das Referendum ergreift, würde anschliessend das Volk entscheiden. Heute beschliesst alleine der Erziehungsdirektor Bernhard Pulver (Grüne) über die Einführung des Lehrplans.
Doch die Gegner könnten bereits zu spät kommen. Zwar ist die Einführung des neuen Regelwerks im Kanton Bern noch nicht beschlossen. Dies dürfte aber in Kürze geschehen. Im November entscheidet der Grosse Rat über die zusätzlichen Kosten von jährlich 22,4 Millionen Franken für den Kanton und 9 Millionen für die Gemeinden. Werden die Ausgaben bewilligt, sagt Pulver Ja zum Lehrplan. Die gestaffelte Einführung beginnt am 1.August 2018 mit den Kindergärten und den ersten bis siebten Schuljahren. Die in der Initiative geforderte Änderung müsste somit rückwirkend in Kraft treten. «Wir lassen den Text jetzt juristisch prüfen», sagt Rahel Gafner dazu.

Rechtlich fragwürdig
Ob Spielregeln nachträglich geändert werden dürfen, ist rechtlich umstritten. «Generell gilt ein Rückwirkungsverbot für Initiativen im Kanton Bern. Ausnahmsweise können solche Forderungen aber trotzdem zulässig sein», sagt Pierre Tschannen, Professor für öffentliches Recht an der Universität Bern. Dafür brauche es «zwingende Gründe» und eine «zeitliche Verhältnismässigkeit». Die geforderte Änderung dürfe nur Monate und nicht Jahre zurückliegen. Ob die Berner Lehrplaninitiative diese Kriterien erfüllen würde, müsste der Grosse Rat entscheiden.
Dass eine solche Initiative zur Abstimmung gelangen könnte, zeigt das Beispiel des Kantons Baselland. Dort ist der Lehrplan bereits beschlossene Sache. Trotzdem hat der Landrat kürzlich einer rückwirkenden parlamentarischen Initiative mit ähnlichem Inhalt wie in Bern zugestimmt. Bald wird sich somit das Stimmvolk zur Frage äussern können, wer in Baselland über den Lehrplan entscheiden soll.

Unterschiedliche Argumente
Die rechtliche Situation ist für die Berner Lehrplangegner aber nicht die einzige Unsicherheit: Bei der Zusammensetzung des Unterstützungskomitees bestehen Unklarheiten. Zwar beabsichtigt die IG, dieses breit abzustützen. Namen aber nennt Gafner keine. «Momentan sind Gespräche mit verschiedenen Personen im Gang.» Sie selbst kommt aus einem christlich-konservativen Umfeld.
Dies treffe aber nicht für alle Mitglieder zu. «Auch ein Atheist kann gegen kompetenzorientiertes Lernen sein», sagt Gafner. Die Stossrichtung des Initiativtextes sei weder religiös noch parteipolitisch gefärbt. Die IG sei eine Bürgerbewegung, die aus Müttern, Vätern und Lehrpersonen bestehe. Von den Berner Parteien unterstützt bisher lediglich die christlich-konservative EDU die Initiative.
Mit Gafner in Kontakt steht auch der Bieler Lehrer und GLP-Stadtrat Alain Pichard. Der langjährige Lehrplan-21-Gegner begrüsst zwar die Forderung der Gruppierung. Er äussert aber die Befürchtung, dass die Initiative in ein falsches Fahrwasser geraten könnte. Würden beispielsweise christlich-konservative Argumente gegen Tagesschulen ins Feld geführt, werde er sich davon distanzieren. «Wenn aber Rahel Gafner auch linke und liberale Kräfte an Bord holt, kann ich mir eine Beteiligung vorstellen», sagt Pichard. Entschieden sei noch nichts.

Auch Pichard macht vorwärts
Der Initiant des lehrplankritischen Memorandums «550 gegen 550» verfolgt derweil seine eigene Agenda. Verschiedene Mitwirkende des Memorandums würden für Ende Oktober eine Informationskampagne planen. «Wir wollen die linken und liberalen Argumente gegen den Lehrplan 21 vorstellen.»
Diese richteten sich gegen die zunehmende Zentralisierung, Normierung und Standardisierung im Schulwesen. «Der Lehrplan ist viel mehr als ein Kompass. Er ist ein Paradigmenwechsel in der Volksschule.» Und ein solcher müsse auch im Kanton Bern öffentlich diskutiert werden. In diesem Punkt also sind Pichard und Gafner schon mal gleicher Meinung. 


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