23. September 2015

Weniger Geld für Begabte (und für deren Förderer)

Seit anfangs August haben die Berner Schulen weniger Geld für begabte Kinder. Fachpersonen für Begabtenförderung kritsieren diesen Entscheid.













Förderung durch des Lernen von Chinesisch im Appenzellerland, Bild: Keystone
Das "Stiefkind" Begabtenförderung, Bund, 23.9. von Meret Hasler


Eins bis zwei Prozent aller Kinder in der Schweiz sind hochbegabt. In Bern sind das ungefähr 1000 bis 2000 Schülerinnen und Schüler. Der Kanton soll diese Kinder fördern – so zumindest steht es im Gesetz. Doch in der Praxis harzt es. Und zwar derart, dass der Kanton seit Anfang August seine Fördermittel halbiert hat. Nun stehen jährlich noch 2,5 Millionen Franken für die Förderung hochbegabter Kinder zur Verfügung. Der Entscheid der Erziehungsdirektion von Regierungsrat Bernhard Pulver (Grüne) ist Teil des grossen Sparpakets ASP, das nun in diesem Bereich umgesetzt wird. Für den Kanton war die Rechnung einfach: 55 Prozent des bisherigen Budgets sind vorher ausgeschöpft worden. Also wurde die Hälfte abgezwackt.

Lösungen mit kleinem Aufwand
Tatsächlich scheint sich ein Grossteil der Berner Gemeinden nicht für Begabtenförderung zu interessieren. «Es liegt vieles brach», sagt Keren Wirz, Expertin für Begabtenförderung. Die Gemeinden nutzten die dafür gesprochenen Gelder bisher nicht vollumfänglich. «Die Begabtenförderung ist ein Stiefkind in Bern», sagt Hansjürg Feuz, Lehrer für Begabtenförderung. «Es ist skandalös: Alle Gemeinden sollten das Angebot der Begabtenförderung aufgleisen, aber bei weitem nicht alle bemühen sich darum.» Und Franziska Zurbrügg, Lehrerin für Begabtenförderung, sagt, Angebote für lernschwache Kinder hätten schon früher bestanden, weshalb Gemeinden diese übernommen hätten. Die seit 2009 neu dazugekommene Begabtenförderung sei dagegen oft untergegangen, oder man habe Lösungen mit möglichst kleinem Aufwand gesucht. Es fehle, so Feuz, vielerorts an Infrastruktur und am pädagogischen Willen. Begabtenförderung bedeute für manche Lehrerinnen und Lehrer nur «mühsamer Mehraufwand».

Kritik am Kanton
Doch die Kritiker sehen nicht allein die Gemeinden und deren Schulleitungen als die Verantwortliche. Vielmehr spielen sie den Ball an den Kanton zurück. Sie monieren, dieser habe sich für das Thema zu wenig engagiert. Insbesondere habe es der Kanton unterlassen, auch das nötige Lehrpersonal ausbilden zu lassen.
Dass viele Gemeinden die zur Verfügung gestellten Gelder nicht vollumfänglich nutzen, sieht Expertin Wirz primär in einem Mangel an «spezifisch ausgebildeten Fachkräften» begründet: «Berns Gemeinden finden nicht genügend Lehrpersonen für Begabtenförderung.» Das liege auch daran, dass der Kanton die teure Ausbildung zur Lehrperson Begabtenförderung kaum finanziell unterstütze. Lehrerin Zurbrügg sieht den Fachkräftemangel als Grund dafür, dass viele Gemeinden noch kein ausgereiftes Integrationskonzept hätten (siehe Text unten). Beim bernischen Lehrerverband (Lebe) tönt es ähnlich: «Wer Integration bestellt, muss auch die Mittel bereitstellen», sagt Franziska Schwab, Leiterin Pädagogik.
Beim Kanton hingegen sieht man die Situation weniger dramatisch. Zwar räumt Erwin Sommer, Leiter des kantonalen Amts für Kindergarten, Volksschule und Beratung, ein: Die Begabtenförderung stehe nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit. «Sie ist aufgrund der grossen Bandbreite an Herausforderungen im Kontext der Integration etwas in den Hintergrund gerutscht», sagt er. Aber, so Sommer, letztlich fehle auch das Interesse bei den betroffenen Schülern selbst: «Manche Hochbegabten wollen die Angebote nicht nutzen – um nicht aufzufallen.» Und Gemeinden, in denen es nun halt keine Hochbegabten gebe, müssten ja auch keine Begabtenförderung anbieten. «Da bleiben die zur Verfügung gestellten Lektionen zu Recht ungenutzt.»

Integration fusst erst jetzt richtig
Ein Befund, der auch in Gemeinden, die das Angebot kennen, teilweise bestätigt wird. Im Oberstufenzentrum Hindelbank etwa besuchen neu zwei Schüler das Angebot der Begabtenförderung. «Die Integration von Begabten fusst an der Oberstufe erst jetzt richtig», sagt die Schulleiterin Christine Steiger. «Die Umsetzung der Begabtenförderung musste sich langsam entwickeln.» Und Therese de Bruin-Krebs, Schulinspektorin im Emmental, findet: Das nun reduzierte Budget für die Begabtenförderung reiche noch immer aus.
Wo genau also liegt das Problem? Bei den fehlenden Fachkräften? Den zu zögerlichen Gemeinden? Beim mangelnden Geld? Für Schulleiterin Steiger ist klar: «Wir können keine Begabten ­hinzaubern. In den letzten Jahren gab es einfach keinen Bedarf.» Und Schul­inspektorin de Bruin-Krebs sagt: «Wenn es in einer Gemeinde tatsächlich keine Hochbegabten haben sollte, kann man natürlich keine finden.»


Passend zum Artikel erschien auch folgende Lesermeinung von Herbert Anneler:
Bei der Lektüre dieses Beitrags kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass es hier gar nicht um die Förderung der Begabten, sondern um die Förderung der Begabtenförderer geht. Die beste Begabtenförderung besteht in der entsprechenden Schulung der Lehrkräfte in ihrem herkömmlichen Ausbildungscurriculum. Sie sind durchaus in der Lage, die Hochbegabten sachlich zu fördern, jedoch auch in Bezug auf die soziale Kompetenz: Diese entfaltet sich am besten im Klassenverband und nicht, indem man Hochbegabte daraus isoliert. Es kommt noch etwas ganz anderes dazu: Die Definition von Hochbegabung ist nicht eindeutig - es gibt viele Kriterien. Der heutige Kriterien-Kanon dessen, was unter Hochbegabung zu verstehen ist, ist einseitig, ja willkürlich.


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