27. September 2015

Was ist los mit der NZZ?

Haben Sie sich auch gewundert über den seltsamen Artikel von Walter Bernet, inwelchem er den Kritikern des LP21 verborgene Agenden vorwirft und sie generellin die Ecke der Ewiggestrigen stellt? Nun, Beat Kissling, Psychologe, Erziehungswissenschaftler und Beirat der renommierten Gesellschaft für Bildung und Wissen, kontert den tendenziösen Kommentar mit einem in seiner Eindrücklichkeit einzigartigen Text. Darin geht es neben einer Textanalyse notgedrungen auch um die journalistische Redlichkeit einer angesehenen Publikation wie der Neuen Zürcher Zeitung. Als Korrektiv zum zweckgefärbten Kommentar von Bernet verdient Kisslings Leserbrief weite Verbreitung. (uk)
Ein Ausrutscher der NZZ? Leserbrief an die NZZ zum Artikel "Die Schlacht um die Volksschule" (NZZ, 18.9.) 27.9. von Beat Kissling

Hoppla – habe ich mich verlesen? In der NZZ eine Boulevardschlagzeile? Eine ganze Seite! Sehr prominent! Noch dazu kein Gastbeitrag, sondern aus der Feder eines langjährigen Redaktors mit Kompetenzen in Bildungsfragen (so das Impressum).
Die Lektüre der darin enthaltenen Botschaft enthüllt - der Titel lässt es schon erahnen - nicht gerade das Paradestück einer differenzierten Auseinandersetzung mit oder gehaltvollen Reflexion über die Fragen rund um den Lehrplan 21 und die zukünftigen Volksabstimmungen wie man es von einem NZZ-Beitrag erwarten würde. Bei näherer Analyse entpuppt sich der Text als ein durchschaubares Konstrukt zur Diskreditierung sämtlicher Kritiker des Lehrplan 21, was im Folgenden gezeigt wird.

Beim Terminus „Schlacht“ denkt man unweigerlich an zwei sich bekämpfende Parteien. Walter Bernet schildert stattdessen ein Szenario, in dem ausschliesslich diejenigen in die Schlacht ziehen, die auf die offenbar anmassende Idee kamen, Volksinitiativen zu lancieren. Sie, die den Schulfrieden stören, sind es, die der Bevölkerung ‚dur alli Böde dure’ ermöglichen wollen, in Schulfragen sich auch eine Meinung zu erlauben und sich politisch einzumischen – welche Unverschämtheit! Das eigentliche Anliegen solch obstruktiver Renitenz sei rein restaurativ, gibt Bernet zu verstehen: nämlich eine Rückkehr zur autoritären, methodisch eindimensionalen Schule von gestern. Die Argumente, der laut Bernet clandestin gesteuerten Initiativkomitees seien diffus, floskelhaft, unzusammenhängend, ja abstrus, sodass klar werde: Hier wird intransparent und unredlich operiert. „Unzimperliche Abstimmungskämpfe“ seien vorprogrammiert, zumal bereits in der Vergangenheit bei der Abstimmung zum Bildungsartikel 2006 die Kritiker nach einem „eingefahrenen Reiz-Reaktions-Schemata“ gestritten und die realen Probleme der Volksschule ignoriert hätten.
So weit der erste Teil von Bernets Artikel, die Schilderung der Streitsüchtigen. Im zweiten Teil kommen umgekehrt die Garanten des Fortschrittes zu Ehren, deren verdankenswerte Arbeit für realistische Anpassungen an eine sich wandelnde Gesellschaft so flagrant von den Kritikern in den Dreck gezogen werde, indem sie z. B. den Lehrplan 21 als „Monster“ bezeichneten. In Wirklichkeit hätten, wie Bernet weiter erklärt, all die verantwortlichen Schulexperten der Pädagogischen Hochschulen  und Verwaltung nichts anderes getan, als in grosser Fleissarbeit den Willen des Volkes nach Harmonisierung umgesetzt, alles natürlich -  im Unterschied zu den notorischen Querulanten  - mit grösster Transparenz und Redlichkeit und zur allgemeinen Zufriedenheit. Das eigentliche Kernelement des Lehrplan 21, die „Kompetenzorientierung“, erklärt Bernet zur ausschliesslichen Chefsache der Lehrerbildung, worüber Laien ihren Kopf nicht zu zerbrechen hätten.

So einfach und klar schwarz-weiss präsentiert Bernet das bildungspolitische Szenario rund um den Lehrplan 21: Da die Guten, dort die Bösen, ganz wie wir es aus Märchen kennen. Interessant, dass er das Wort „Verschwörungstheorie“, das in vielen heutigen Debatten als Totschlagargument gerne zum Zuge kommt, nicht verwendet. Kann es sein, weil seine laufend eingestreuten Termini der „bösen, heimlich tätigen Mächte“ und sein ganzes Elaborat zu sehr selber danach riechen?

Der einzig sachliche Teil in Bernets Text bezieht sich auf den Fremdsprachenstreit der Kantone. Zu den strittigen Themen im Lehrplan 21 erfährt man inhaltlich als Leser nichts, was angesichts von Bernets intendierten Aussage aber nicht überrascht.  Angesichts dieses Propagandatextes erscheint es paradox, dass einer der profiliertesten Kritiker der europäischen Bildungsentwicklung seit der Einführung von PISA (2000) und damit des Kompetenzbegriffs in seltener Häufigkeit die NZZ mit ganzseitigen Beiträgen bereichert – zuletzt mit dem samstags (NZZ, 19.9.2015) publizierten Artikel „Bildung, optimieren, perfekionieren. Über neue Menschen, Bioingenieure und Transhumanisten“. Konrad Paul Liessmann, renommierter Wiener Philosoph und Professor für Bildungswissenschaften, hat in Anlehnung an sein vor einem Jahr publizierten Buch „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung“ im NZZ-Artikel vom 15. September 2014 mit dem Titel „Das Verschwinden des Wissens“ die paradigmatische Rolle dieses Kompetenzbegriffs für die Schulbildung ausführlich erörtert. Im Lead des Artikels schreibt er: „Unter dem Deckmantel der „Kompetenzorientierung“ hat sich eine Grundkonstellation des Erkennens und damit der Bildung glatt in ihr Gegenteil verwandelt.“ Liessmann spricht von einem „der radikalsten Veränderungen an Schulen und Universitäten (...), ein Bruch mit einer jahrhundertealten Tradition, eine völlige Neuorientierung dessen, was Bildungseinrichtungen zu leisten haben...“, was durch das „Zauberwort“ Kompetenzorientierung, das die Lehr- und Studienpläne dominiere, ermöglicht werde. Sein Kommentar zum Lehrplan 21 im Buch „Geisterstunde – Die Praxis der Unbildung“ unterscheidet sich markant von demjenigen Bernets: “Der ‚Lehrplan 21’ sieht denn auch Zentralisierung, Standardisierung und eine flächendeckende Kompetenzorientierung für die Grundschulen der Deutschschweiz vor; auf 550 monströsen Seiten wird ein bürokratisches Steuerungsinstrumentarium vorgelegt, das die Schweizer Lehrerschaft allerdings nicht hinnehmen will.“ (S.27) Liessmann legt ausserdem dar, dass dieses Kompetenzkonzept weder in der Pädagogik noch in der Bildungstheorie wurzle, sondern in der Ökonomie. Vor gut einem Monat, nämlich in der Basler Zeitung vom 8. August 2015, empfahl der von der NZZ geschätzte Wiener Intellektuelle der Schweiz folgerichtig ein „Reformmoratorium“. Warum Walter Bernet als Redaktionsmitglied  und Bildungsverantwortlicher all dies entgangen sein soll, muss er der Öffentlichkeit plausibel machen.

Dieselbe Forderung nach einem Moratorium hat anfangs Mai 2013 eine Gruppe renommierter Erziehungswissenschaftler, Psychologen und Ärzte im Memorandum „Mehr Bildung – weniger Reformen“ gestellt und exakt dieselbe Diagnose zur Reformentwicklung in der Schweiz gestellt. In diesem Memorandum heisst es u.a. „Die Bildungsverwaltung setzt auf modische Versprechungen und vertraut internationalen Organisationen wie etwa der OECD, statt Erfahrungen der Bildungspraktiker und vorgängiger Erprobung von Neuem. Bewährte Eigenheiten des schweizerischen Bildungswesens gehen so verloren.“ Wer sind die cladestin gesteuerten, querulantischen Autoren dieses Memorandums, um Walter Bernets insinuierte Argumentationslinie  aufzugreifen? U.a. bekannte Persönlichkeiten wie Prof. em. Dr. Walter Herzog, Prof. Dr. Allan Guggenbühl, Prof. Dr. Roland Reichenbach, Prof. Dr. em. Rolf Dubs, Prof. Dr. Fritz Osterwalder, Prof. Dr. Remo Largo, Prof. Dr. em. Urs Haeberlin.

Noch gewichtiger als die kritische, fachlich begründete Reflexion aus Kreisen der Wissenschaft sind wohl die Erfahrungen der „Betroffenen“, konkret der Lehrpersonen, Schüler und Eltern zu gewichten. Es wäre Herrn Bernet und der NZZ wärmstens empfohlen, mal wirklich ‚unter die Leute’ zu gehen und die Eltern und Lehrpersonen (nicht die sogenannten Experten an PHs und in der Verwaltung) nach ihren Erfahrungen mit den Bildungsreformen der letzten Jahre zu befragen und zu schauen, was sie dazu veranlasst haben könnte, den enormen Aufwand zu betreiben, ohne Infrastrukturhilfen von grossen Parteien oder Organisationen Volksinitiativen zu lancieren; denn nicht zu vergessen: In der EDK besteht fast wie zu DDR-Zeiten absolute Einmütigkeit, von links bis rechts, von SP bis SVP: alle wollen diskussionslos den Lehrplan 21 einführen.

Michael Schönenberger, ebenfalls NZZ-Redaktor hat in der Vergangenheit einiges dazu beigetragen, dass bis anhin der Eindruck bei der Leserschaft Bestand hatte, in Sachen Bildungsdebatte sei das Bemühen der NZZ um sachliche Differenzierung gewährleistet, z. B. im Artikel „Lehrplan 21. Ein typisches Kind seiner Zeit“ vom 13.8.2013. Er problematisiert darin sehr vorsichtig, aber in präziser Weise die absehbaren Risiken der sogenannten Kompetenzorientierung und nimmt die Befürworter in die Pflicht: „Es ist die Aufgabe der beteiligten Bildungsforscher, der Lehrerschaft die Vorteile des Kompetenzmodells gegenüber dem herkömmlichen Unterricht zu erklären. Dabei wäre der Paradigmenwechsel zu begründen, besonders weil es wenig Evidenz gibt, dass die Qualität der Schulabgänger mit Bildungsstandards erhöht wird. Die Bedenken gegenüber einer Bildungspraxis und Mentalität, bei der das Messbare zum Wichtigsten wird, wären zu zerstreuen. Mit der zweifelhaften Zusicherung, es werde in der Schweiz nie Schulrankings geben, ist es nicht getan. Wie werden korrumpierende Effekte auf Schulleitungen und Lehrpersonen ausgeschlossen? Was wird getan, damit hierzulande die negativen Erfahrungen, wie sie in den USA gemacht worden sind, nicht fatalerweise wiederholt werden?“

Es drängt sich die Frage auf, was in der NZZ wohl geschehen ist, dass nicht die differenzierte, kritische journalistische Reflexion eines Michael Schönenbergers weiterhin die öffentliche Debatte begleitet, sondern stattdessen ein von Walter Bernet verfasstes Pamphlet prominent veröffentlicht wird, das offensichtlich die Kritiker der Lehrplan 21-Schulkonzeption und Initianten von kantonalen Volksinitiativen diskreditieren soll. Aber natürlich gerät man mit solchen Fragen und Aufforderungen zum Nachdenken wieder unter den Verdacht, Verschwörungstheorien das Wort reden zu wollen. Deshalb überlasse ich es den Leserinnen und Lesern selbst, sich einen Reim aus diesem NZZ-Kurswechsel zu machen. 

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