9. April 2015

Der Lehrplan 21 im Fach Deutsch

Erfüllung des kantonalen Bildungsauftrags oder Gefahr weiteren Bildungsabbaus?
Elsbeth Schaffner, Bürgerin und Steuerzahlerin im Kanton Thurgau, von Beruf Primarlehrerin, 8.4.2015

Im Folgenden stelle ich zur Diskussion, ob der Lehrplan 21 ermöglicht, dass alle Kinder gut Deutsch sprechen, lesen und schreiben lernen. Fördert das neue Schulkonzept eine reichhaltige und formal  korrekte Sprache? Wird im Deutschunterricht die Vermittlung geeigneter Inhalte genügend berücksichtigt? Wenn nicht, stellt sich aus pädagogischer Sicht die Frage, ob nicht der Lehrplan 21 den bereits heute beklagten Bildungsabbau im Fach Deutsch (ungewollt) vorantreibt.
*  Mit der sprachlichen Bildung ist immer eine Schulung des Gemüts und des Denkens durch inhaltlich und sprachlich gehaltvolle Texte verbunden. Guter Deutschunterricht trägt zur positiven Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit bei. Die Lehrerinnen und Lehrer sind die sprachlichen Vorbilder!

*  Die Lehrerinnen und Lehrer wecken bei ihren Schülern durch das Lesen geeigneter Geschichten und Gedichte die Liebe zur Literatur. Im Deutschunterricht werden die wichtigen kulturellen und geistigen Grundlagen und Werte weitergegeben.

*  Rechtschreibung und Grammatik sind wichtig und erfordern eine systematische Schulung. Dies gilt auch für das Erlernen, Üben und Festigen der (verbundenen!) Schreibschrift.

*  Laut Hattie-Studie ist die Anleitung massgebend für den Lernerfolg. Der Aufbau des korrekten sprachlichen Ausdrucks gelingt am besten im mündlichen Klassenunterricht und durch gezielte Aufsatzschulung. Schülerarbeiten werden vom Lehrer korrigiert und von den Schülern verbessert.


 Kompetenzorientierung im Lehrplan 21 zerstückelt die Inhalte im Fach Deutsch
Das bisherige Schulfach Deutsch wird in sechs Kompetenzbereiche aufgeteilt:
Hören, Lesen, Sprechen, Schreiben, Sprache im Fokus und Literatur im Fokus.
Der Lehrplan schreibt den Ablauf des sogenannten Kompetenzerwerbs detailliert vor:
Jeder der oben erwähnten Kompetenzbereiche wird in die von den Experten ausgewählten Kompetenzen (ABCDEFG) aufgeteilt, die die Schüler im Laufe der 11 obligatorischen Schuljahre (inkl. Kindergarten) erwerben sollen. Unter jeder einzelnen Kompetenz sind wiederum die Kompetenzstufen aufgelistet (abcdefghi), die festlegen, was das Kind zu einem gewissen Zeit-punkt können soll. Konsequent der konstruktivistischen Theorie folgend wird das Fach Deutsch durch diesen Kompetenzraster in rund zweihundert Einzelteile (Schülerinnen und Schüler können...) zerlegt.

è Dazu die Stellungnahme der CVP aus der Konsultationsantwort des RR Thurgau:
"Die CVP meint zur Kompetenzorientierung : Der Lehrplan formuliert sämtliche
Lehrziele im Muster des Könnens, nicht des Wissens, Verstehens, Interesses am
Gegenstand. Der stets gleiche Ansatz kann sich doch nicht für alle Themen eignen."

Es ist tatsächlich zu befürchten, dass durch die Kompetenzstruktur des Lehrplans 21 der Zusammenhang des Sprachunterrichts komplett verloren geht. Das wäre verheerend: Sprache ist die Grundlage des Denkens und sie muss in einem ganzheitlichen Zusammenhang erworben werden. In einer gut geführten Klassengemeinschaft im systematisch und schrittweise aufgebauten Unterricht können alle Kinder gut Deutsch lernen. Dafür braucht es einen klaren Bildungsauftrag, gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer und geeignete Lehrmittel.
Erfahrungen aus der Schulpraxis zur Grundlagenbildung im Fach Deutsch:
Mit Kindern erfolgt sprachliche Bildung immer im Zusammenhang mit einem altersgerechten Thema (z.B. ein Tier, eine Geschichte...). Im Klassengespräch werden Gedanken und Beobachtungen zusammengetragen und in eine sprachliche Form gebracht. Für die Förderung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit braucht es einen durchdachten Aufbau und viel Übung. Dies geschieht mündlich und schriftlich. Zuhören ist dabei kein Kompetenzziel, sondern Voraussetzung. Pädagogisch ausgebildete Lehrkräfte richten die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich, auf einen Gegenstand (ein Phänomen, eine Gegebenheit, ...) und auf die andern Kinder. So können alle im gemeinsamen Unterricht unter Anleitung des Lehrers lernen, ihre Überlegungen sprachlich immer besser auszudrücken. Sie denken mit, finden gemeinsam die passenden Wörter und üben Sätze zu formulieren. Nicht isolierte, abstrakte grammatikalische Übungen zu Nomen, Verb und Adjektiv stehen im Zentrum des Unterrichts, sondern ein ständig wachsender lebendiger Wortschatz, um auszudrücken, wie die Dinge heissen, wie etwas aussieht oder sich anfühlt und was geschieht bzw. was jemand tut. Dazu braucht es eine sichere, wohlwollende Lehrerpersönlichkeit, die begeistert ist vom Lernstoff, an den sie die Kinder heranführen will.
Die Lehrerpersönlichkeit ist massgeblich für den Erfolg im Deutschunterricht! Sie motiviert und ermutigt die Kinder, genau zuzuhören und korrekt sprechen und schreiben zu lernen.
Mit den modernen Unterrichtsmethoden werden die Schüler oft beim Lernen sich selbst überlassen. Sie werden mit offenen Aufgabenstellungen konfrontiert, sollen „selbstgesteuert“ Themen erkunden und eigene Lösungen entwickeln. In Gruppen sollen sie miteinander darüber debattieren, ihre eigenen Vorlieben reflektieren und abschliessend ihre Resultate präsentieren. Leider gibt es trotz viel Beschäftigung und Ausfüllen von unzähligen Arbeitsblättern meist zu wenig vertiefte Lerneffekte! Ohne die systematische Vermittlung des Stoffes im gemeinsamen Unterricht werden die meisten Kinder und Jugendlichen weder gefördert noch gefordert. Sie wären auf den vom Lehrer geleiteten ganzheitlichen Deutschunterricht im Rahmen der Klassengemeinschaft angewiesen. Nur dann können sie die notwendige Konzentration aufbauen, damit sie ihre Gedanken ordnen, inhaltliche Zusammenhänge herstellen und sich im sprachlichen Ausdruck üben können.
Die Aufteilung der Sprache in zahlreiche Teilaspekte, wie sie der Lehrplan 21 vornimmt, wirkt künstlich. Wird so ein zusammenhängender Lernprozess nicht eher verhindert? 
Kann der sogenannte Kompetenzaufbau im Lehrplan 21 das Ziel einer vertieften sprachlichen Bildung erreichen oder behindert er sie nicht eher? Führt nicht die detailliert festgeschriebene Aufzählung unweigerlich zum Ausschluss der nicht aufgeführten Kompetenzen? Besteht nicht die Gefahr, dass nur noch gelernt wird, was getestet werden kann? Die Kompetenzstufen, die je nach Unterrichtsarrangement weitgehend selbsttätig mit didaktischen Materialien bearbeitet wurden, werden zukünftig vermutlich mit standardisierten Tests als erfüllt abgehakt. Eine Einführung in unsere reichhaltige Sprachkultur wird auf diese Weise jedoch kaum mehr möglich sein. Das mechanistische Kompetenzraster-Lernen droht im Gegenteil zu noch mehr Oberflächlichkeit und Verarmung der Sprache zu führen. Der Lehrplan wird nach seiner Einführung entweder zur Makulatur werden oder er schreibt den Lehrkräften die eingekauften Unterrichtsmaterialien der Lehrmittelkonzerne vor.

O-Ton Lehrplan 21 Kompetenzbereich Hören:
4-8-jährige Schulkinder ...
“können Gesprächen folgen und dabei ihre Aufmerksamkeit nonverbal (z.B. Mimik, Körpersprache), paraverbal (z.B. Intonation) und verbal (Worte) zeigen“ (D.1, C b)
9-12-jährige Schülerinnen und Schüler...
„können in anforderungsreichen Situationen (z.B. Zeitdruck, Nebengeräusche)
Emotionen der sprechenden Person einschätzen.“(D.1, A f)

13-15-jährige Schülerinnen und Schüler...
„können in Diskussionen und Debatten das Gesprächsverhalten und die darin liegende Strategie der anderen einschätzen, um mit eigenen Beiträgen angemessen reagieren zu können“ (D.1, C g)
„können nonverbale und paraverbale Signale im Gespräch bewusst einsetzen, um die eigene Absicht durchzusetzen“ (D.1, C h).

è Stellungnahme des Amtes für Mittel- und Hochschulen (AMH) des Kantons Thurgau:
„Für das AMH liegt der Fokus zu sehr auf den kommunikativen Kompetenzen. Die
Grammatik und die syntaktischen Strukturen, das nötige Handwerk, welches die
Schülerinnen und Schüler benötigen, um sich in authentischen kommunikativen
Situationen zu behaupten, werden stiefmütterlich behandelt und somit nicht
ausreichend hervorgehoben, v.a. im Vergleich zu den kommunikativen, kulturellen und ästhetischen Kompetenzen, welche ein grosses Gewicht haben.“ (Konsultationsantwort RR):

O-Ton Lehrplan 21 Kompetenzbereich Sprache im Fokus:
13-15jährige Schülerinnen und Schüler ...
können den Gebrauch von sprachlichen Mitteln untersuchen (z.B. Chat eher mündlich, Präsentation eher schriftlich, Bewerbungsschreiben und -gespräch sehr formell, kulturelle Prägung). (D.5, B d)
können verschiedene Schreibweisen untersuchen (z.B. SMS-Schreibweise: shön vs. schön, lg, 4u) und Vor- und Nachteile beschreiben. (D.5, C e)
können die Bedeutung von Rechtschreibregeln reflektieren. (D.5, C e)

è Stellungnahme der FDP des Kantons Thurgau (aus der Konsultationsantwort des RR):
"Die Kompetenzen im schriftlichen Bereich nehmen laut Einschätzung der FDP laufend ab. Auch hier ist eine Fokussierung angezeigt und die Liste der Kompetenzen zu reduzieren. Die Partei verweist auf die nicht immer genügende schriftliche Sprachkompetenz der Lehrpersonen; die Lehrerausbildung muss in diesem Bereich verbessert werden."

Kann der Lehrplan 21 seine eigenen Versprechungen erfüllen? In der Einleitung heisst es dort:
„Im Deutschunterricht lernen die Schülerinnen und Schüler, Mundart und Standardsprache situationsangepasst, sorgfältig und sprachlich korrekt anzuwenden“
           
è Stellungnahmen des Thurgauer Gewebeverbandes (TGV):
"Der TGV stellt bei den Jugendlichen seit Jahren eine Verschlechterung
der Deutschkenntnisse in Wort und Schrift fest. Da der Lehrplan 21 auf den
bestehenden Lehrplänen aufbaut, beurteilt er die Mindestansprüche als viel zu tief. In
vielen Berufen mit Kundenkontakt, zu denen auch Berufe mit sehr tiefem
Einstiegsanforderungen gehören, wird eine akzentfreie Ausdrucksweise erwartet. Die
Mitarbeiter einschliesslich Lernende sind beim Kundenkontakt die Visitenkarte der
Unternehmen bzw. des Lehrbetriebs. Die Mundart- und Standardsprache darf folglich
nicht erstsprachlich gefärbt sein (siehe D.3 A e). Bei den Schreibprodukten ist die
Kompetenz der (weitgehend) fehlerfreien Grammatik eine zwingende
Mindestanforderung.“ (Konsultationsantwort des RR)

O-Ton Lehrplan 21 Kompetenzbereich Lesen:
4-8jährige Schulkinder...
„können sich mithilfe konkreter Fragen darüber austauschen, welche Leseinteressen sie haben und können so ihre Lektürewahl in der Bibliothek, in der Leseecke reflektieren.“ (D.2, D b).
9-12jährige Schulkinder...
können ein Buch auswählen, indem sie in verschiedenen Büchern schnuppern (z.B.
durchblättern, Anfang oder Schluss lesen). (D.2,C f)
13-15jährige Schülerinnen und Schüler...
„können sich darüber austauschen, welche Leseinteressen sie haben, und können ihre Lektürewahl begründen.“ (D.2, D e)

Die Erfahrung zeigt, dass die jungen Leserinnen und Leser sich in der Regel nur daran orientieren können, was ihnen von den Erwachsenen angeboten und empfohlen wird. Da der Lehrplan 21 keine Kriterien angibt für Literatur, die sich für eine umfassende Bildung der Jugend eignen würde, wird diese Auswahl den Lehrmittelkonzernen[1] überlassen. Sollten wir hier wir nicht genauer hinschauen? Da Lesen eine der grundlegendsten Kulturtechniken ist, muss bei der Auswahl auf die Inhalte geachtet werden. Gute Texte sind schön, ergreifend, berührend, spannend, erheiternd oder ganz einfach interessant. Sie müssen die Kinder positiv ansprechen und gleichzeitig wichtige kulturelle Grundlagen weitergeben. Sprachlich reichhaltige und gehaltvolle Geschichten und Gedichte bilden das Gemüt der Kinder und Jugendlichen und erschliessen ihnen einen eigenen Zugang zur Welt. Beim Lesen entstehen innere Bilder. Lesen ist kein isolierter Vorgang, der mechanistisch trainiert wird, und dient auch nicht nur dazu, Sachtexte und Gebrauchsanweisungen zu verstehen. Lesenlernen muss durch lesen geschehen. Lesenlernen ist Arbeit, Entdecken und Herausforderung und lässt innerlich die Kinder wachsen. Vor allem durch das gemeinsame Lesen einer Klassenlektüre werden Personen und Geschehnisse aus einer Geschichte lebendig.

Abschliessend möchte ich folgende Fragen zur Diskussion stellen:
*  Wird der Lehrplan 21 dem ganzheitlichen Bildungsauftrag an das Fach Deutsch gerecht?

*  Bereitet er die Jugend genügend auf die Anforderungen der Berufsausbildung vor?

*  Ermöglicht er die Vermittlung der kulturellen Werte und die Persönlichkeitsbildung der Schülerinnen und Schülern gemäss Paragraph 2 des Thurgauer Volksschulgesetzes?

Gesetz über die Volksschule vom August 2007:
 § 2 Die Volksschule fördert die geistigen, seelischen und körperlichen Fähigkeiten der Kinder. In Ergänzung zum Erziehungsauftrag der Eltern erzieht sie die Kinder nach christlichen Grundsätzen und demokratischen Werten zu selbständigen, lebenstüchtigen Persönlichkeiten und zu Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Umwelt.



[1] Bereits in den heute verwendeten Erstleseheften des Leselehrganges „Leseschlau“ kommt ein erschreckender Mangel an wertorientierten Inhalten zum Ausdruck:
„Du nervst!“ heisst der Titel eines von mehreren Leseheften zu diesem Lehrgang für Erstklässler.
Es geht darin um einen Jungen, der alle seine Kameraden blöd findet. Weil er jemanden sucht, der genau so ist wie er, klont er sich selbst (im Traum). Schon nach kurzer Zeit findet der Junge seinen Klon genauso blöd wie alle andern Kinder. Die Geschichte endet damit, dass er aus seinem Traum erwacht und sich darauf freut, seine Schulkameraden wieder zu sehen. Die Geschichte vermittelt keinerlei positive Möglichkeiten, Beziehungen freundschaftlich zu gestalten. Es ist deshalb schon vorauszusehen, dass es nicht lange dauern wird, bis der Junge seine Kameraden wieder blöd findet. Im Vergleich zu vielen modernen Lesetexten für Kinder und Jugendliche fallen die früheren Hefte des Schweizerischen Jugendschriftenwerkes (SJW) durch ihre sorgfältige Auswahl und den gehaltvollen Inhalt besonders positiv auf. „Das Eselein Bim“ z.B., ein Leseheft für 9- bis 11-Jährige, schlug eine Brücke zwischen Arm und Reich und füllte Begriffe wie Solidarität, Einsamkeit, Gier, Freundschaft und Abenteuer mit Inhalt. Solche Geschichten könnten den jungen Leserinnen und Lesern das Herz öffnen für die sozialen Zusammenhänge der heutigen Welt. 

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