30. März 2015

"So ziehen wir Rotzlöffel heran"

Der schwedische Psychiater und Buchautor David Eberhard sagt, eine liberale Erziehung schade Kindern und Eltern. 




"Niemand traut sich einzugreifen", Bild: dkoche/photocase.de

"So ziehen wir Rotzlöffel heran", Die Zeit, 29.3. von Jeannette Otto


DIE ZEIT: Wann waren Sie zum letzten Mal mit Ihren Kindern in einem Restaurant?
David Eberhard: Das ist nicht so lange her. Warum fragen Sie?
ZEIT: Weil die Wirte in Stockholm genug haben von Eltern mit Kindern, die sich nicht benehmen können. Ein Lokal hat Familien den Zutritt nun sogar verboten. Und das im kinderfreundlichen Schweden.

Eberhard: Ich kann das gut verstehen. Es gibt immer Kinder, die schreien, Getränke verschütten, durch die Räume rennen oder bei minus fünf Grad die Tür aufreißen. Die Eltern sitzen daneben und denken nicht daran, einzugreifen.
ZEIT: Warum sagt dann kein anderer was?
Eberhard: Das traut sich niemand mehr. Eltern können sehr unangenehm werden, wenn man ihren Nachwuchs kritisiert. Früher gab es eine Gemeinschaft der Erwachsenen. Man hatte die gleichen Werte, was die Erziehung anging. Wenn sich ein Kind danebenbenahm, ging man hin und sagte: Hör auf damit! Diese Übereinkunft gibt es nicht mehr. Wir Erwachsenen stehen nicht mehr füreinander ein, wir stehen nur noch für unsere Kinder ein.
ZEIT: Ihr neues Buch Kinder an der Macht erscheint in wenigen Wochen auf Deutsch. Darin behaupten Sie, die liberale Erziehung sei gescheitert. Warum?
Eberhard: Weil sich Eltern nicht mehr wie verantwortungsvolle Erwachsene verhalten. Sie glauben, beste Freunde ihres Kindes sein zu müssen. Sie stellen sich auf eine Stufe mit dem Kind, wagen nicht, ihm zu widersprechen, Grenzen zu setzen. Sie treffen keine Entscheidungen mehr, sondern wollen so cool und hip und rebellisch sein wie ihre Kinder. Unsere Gesellschaft besteht nur noch aus Teenagern.
ZEIT: Aber meinen Sie wirklich, dass auch deutsche Eltern sich von ihren Kindern vorschreiben lassen, wohin sie in den Urlaub fahren, was es zu Essen gibt, was sie im Fernsehen schauen?
Eberhard: Viele werden sich wiedererkennen. Eltern trauen sich nur ungern mit Erziehungsproblemen nach außen. Die sagen: Bei uns ist alles in Ordnung, kein Thema! Und trotzdem haben sie permanent ein schlechtes Gewissen, weil sie glauben, so vieles falsch zu machen. Sie kommen abends erschöpft von der Arbeit und kochen, was das Kind mag, weil sie keine Diskussionen wollen. Sie lassen es auch länger als vereinbart vor dem Fernseher sitzen, um Ruhe zu haben. Sie verbringen ihren Urlaub an Orten, an denen die Kinder beschäftigt sind, obwohl sie ohne Kinder nie dorthin fahren würden. Ich sage nicht, dass das falsch ist. Ich sage nur, ihr müsst das Kind nicht komplett ins Zentrum eures Lebens stellen. Es gibt keinerlei wissenschaftliche Belege dafür, dass es euren Kinder damit besser geht, dass sie später erfolgreicher werden oder sorgenfreier leben.
Zum Gespräch besuche ich David Eberhard in seiner Wohnung im Herzen Stockholms. Ein Wellensittich zwitschert, die Kinder sind noch in Schule und Kita. David Eberhard holt die vier Bücher, die er geschrieben hat, aus dem Regal. Seine Lieblingsthemen sind die Erziehung, die gesellschaftliche Sehnsucht nach Geborgenheit und der Sicherheitswahn der Erwachsenen. In der schwedischen Ausgabe des neuen Buches ist sein zweijähriger Sohn zu sehen, in Sicherheitsweste und Helm, angeschnallt auf einem Kinderautositz. Zum Gespräch kam Eberhard direkt aus der Klinik. Er ist leitender Psychiater mit 150 Mitarbeitern. Seine dritte Frau ist Krankenschwester.
ZEIT: Sie haben selbst sechs Kinder. Wer bestimmt in Ihrer Familie?
Eberhard: Ich entscheide.
ZEIT: Es gibt keine demokratischen Familienstrukturen?
Eberhard: Ich finde nicht, dass die Familie eine demokratische Institution sein sollte. Die Beziehung zwischen Erwachsenen und Kindern ist immer asymmetrisch. Es ist die Beziehung von Meister und Schüler. Der eine unterrichtet, der andere hört zu. Die Eltern können Dinge besser einschätzen, weil sie mehr Erfahrung haben, mehr wissen. Sie sollten die Regeln machen.
ZEIT: Wie gelingt es Ihnen, inmitten der liberalen schwedischen Gesellschaft Ihre eigenen Kinder streng und autoritär zu erziehen?
Eberhard: Ich darf mich nicht zu sehr unterscheiden von den anderen Eltern, denn das würde meine eigenen Kinder in Schwierigkeiten bringen. Wenn ich militant autoritär wäre, ginge das nicht.
ZEIT: Sie müssen sich also beherrschen?
Eberhard: Nein, das geht schon. (lacht) Auch wenn manche meiner Leser denken: Der will zurück zur militärischen Erziehung, zurück zur Prügelstrafe. Das habe ich nie geschrieben. Ich würde Kinder nie schlagen.
ZEIT: In Deutschland haben wir jetzt viel über den Papst diskutiert und seine Äußerungen zum kleinen Klaps als akzeptabler Erziehungsmethode. In Ihrem Buch schreiben Sie, es gebe keine Belege dafür, dass es autoritär erzogenen Kindern im Leben schlechter ergehe, nicht einmal jenen, die geschlagen wurden. Wie nah sind Sie dem Papst?
Eberhard: In dieser Frage absolut nicht nah. Mir ging es darum, zu sagen, dass es für Kinder wichtig ist, so großgezogen zu werden, dass es den Werten und Normen der Gesellschaft entspricht, in der sie leben. Für Kinder, die in einer Gesellschaft aufwachsen, in der Schläge akzeptiert sind, ist das also nicht so traumatisch. Eltern in der westlichen Welt befürchten inzwischen allerdings, die kleinste Kritik könne ihr Kind traumatisieren. Die trauen sich nicht mal mehr, zu ihrer pubertierenden Tochter zu sagen: Iss nicht so viel Schokolade, sonst wirst du zu fett, weil sie Angst haben, das Mädchen könnte sofort magersüchtig werden. Dabei können wir Kindern ruhig etwas zumuten, die halten das aus. Wir müssen sie nicht behandeln wie Porzellanpuppen.
Eberhard setzt sich in seinem Buch ausführlich mit der Angst der Eltern auseinander. Obwohl es heute kaum noch ernsthafte Gefahren für junge Familien gebe, entstünden immer neue Ängste. Eberhard zeigt an vielen Beispielen die Widersprüche der modernen Elternschaft. Er provoziert, will Eltern zum Hinterfragen ihres eigenen Verhaltens veranlassen. Aus etlichen internationalen Studien zieht er seine Schlussfolgerungen. Um Kinder zum Beispiel in ihrer Resilienz zu stärken, sagt Eberhard, sollte man ihnen früh beibringen, mit Widrigkeiten fertig zu werden.
ZEIT: Woher kommt die Angst, dem Kind durch Erziehung und Strenge Schaden zuzufügen?
Eberhard: Mein Eindruck ist, die haben die Eltern von den Experten.
ZEIT: ... also von Leuten wie Ihnen?
Eberhard: Ich sage den Eltern, sie sollten nicht so viele Ratgeber lesen.
ZEIT: Nur noch Ihr Buch, dann ist es genug.
Eberhard: Das kann man mir vorwerfen. Aber John Bowlby zum Beispiel, dessen Bindungstheorie als unangreifbar gilt, wird von den Experten oft extrem ausgelegt. Das führt dazu, dass Eltern denken, es schade den Kindern, wenn sie früh in die Krippe kommen und mehr Stunden mit einer Erzieherin verbringen als mit der Mutter. Ich habe noch kein Kind gesehen, dass sich enger an die Erzieherin gebunden hätte als an die Mutter.
ZEIT: Der Däne Jesper Juul füllte in Deutschland ganze Kongresssäle mit seinen Vorträgen über Authentizität und den partnerschaftlichen Umgang mit dem Kind.
Eberhard: Oh, ich wünschte, das ginge mir auch bald so!
ZEIT: Wie erklären Sie sich Juuls Erfolg?
Eberhard: Er kam genau im richtigen Moment und zielte direkt in dieses erzieherische Vakuum. Autoritäre Erziehung wollte keiner mehr, Laisser-faire aber auch nicht. Auf die eigenen Eltern wollte erst recht keiner hören, und sich nur auf die Intuition zu verlassen schien viel zu leichtsinnig. Jesper Juul sagt sehr einfache Dinge. Manches ist klug, anderes weniger. Sein erstes Buch Das kompetente Kind kam komplett ohne Referenzen aus. Den Eltern war das egal. Plötzlich redeten alle davon, dass man ein Kind nicht bestrafen dürfe, loben aber auch nicht.
ZEIT: Nicht loben?
Eberhard: Nein, und das sagt nicht nur Juul. Wenn meine Tochter ein Bild malt und es mir zeigen will, dann darf ich maximal sagen: Oh, ein Bild! Wie interessant! Macht es dich glücklich, ein Bild zu malen? Das ist doch keine authentische Kommunikation, so bin ich nicht, warum soll ich mich so verstellen? Eltern müssten sich jedes Wort gegenüber ihrem Kind genau überlegen, bevor sie es aussprechen. Nur um das Kind nicht zu beschämen, zu verunsichern oder unter Wettbewerbsdruck zu setzen. Das Problem mit den Experten ist der moralische Zeigefinger. Sie sagen den Eltern, was zu tun ist und was nicht. Eltern, die Orientierung suchen, nehmen Dogmen und Ideologien an, die sie so schnell nicht mehr loswerden.
Eberhard geht hart mit den Erziehungsexperten ins Gericht, obwohl er nicht sagt, dass Eltern nichts von ihnen lernen könnten. Das Expertenwissen beruhe aber zu oft auf eigenen Ansichten und gesundem Menschenverstand, Dinge, auf die Eltern selbst zurückgreifen könnten. Im eigenen Zuhause, das ist ihm wichtig, muss niemand ein Experte sein. Perfekt seien nur Eltern ohne Kinder.
ZEIT: Deutsche Eltern träumen von Bullerbü oder Lönneberga.
Eberhard: Auch die Schweden sind noch ganz vernarrt in Astrid Lindgrens Geschichten und all die idyllischen Bilder. Aber überlegen Sie mal, wie diese Kinder aufgewachsen sind. Die sind den ganzen Tag herumgestromert, ohne Überwachung, ohne Helm und Sonnenhut. Michel hat seine kleine Schwester Ida oben an den Fahnenmast gebunden. Und Lotta aus der Krachmacherstraße fuhr mit ihren Geschwistern auf dem Dach des VW-Käfers mit. Das ist alles völlig undenkbar geworden. Heute würden sich Eltern gegenseitig das Jugendamt auf den Hals hetzen. Im Kindergarten meines Sohnes müssen alle Kinder schon beim Schlittenfahren Helme tragen!
ZEIT: Was ist so schlimm daran, Kinder beschützen zu wollen?
Eberhard: Die Überbehütung. Wenn wir das kompetente Kind wollen, sollte es allein zur Schule gehen dürfen. Denn im Alter von sechs Jahren ist ein Kind dazu in der Lage, auch in einer Stadt mit viel Verkehr. Eltern lassen das nicht zu, fordern das Kind aber gleichzeitig auf, Entscheidungen zu treffen oder jede Frage auf Augenhöhe mit einem Erwachsenen zu diskutieren. Viele Erwachsene handeln widersprüchlich und haben keine Antenne dafür, was ein Kind anspornt und in seiner Entwicklung voranbringt und was es überfordert.
ZEIT: Welche Konsequenzen hat das?
Eberhard: Wir bereiten die Kinder nicht gut aufs Erwachsenenleben vor, wenn wir ihnen immer vormachen, dir wird nichts Böses geschehen, ich bin immer für dich da, du bist der Nabel der Welt. Was ich in meiner psychiatrischen Klinik erlebe, sind junge Erwachsene, die zu uns kommen, weil die Freundin Schluss gemacht hat, weil der Hund stirbt. Die haben Schwierigkeiten, mit ganz normalem Kummer umzugehen.
"EiniO" nennt Eberhard einen häufigen Befund aus seiner Praxis: "Etwas ist nicht in Ordnung". Eltern suchten medizinische Antworten auf ihre Ratlosigkeit. Erleichtert nähmen sie eine ADHS-Diagnose hin, weil sie damit eine Erklärung für das Verhalten des Kindes bekämen und sich nicht weiter die Schuld geben müssten. Eltern wunderten sich, dass ihre Kinder müde, gereizt, hyperaktiv seien, kämen aber nicht auf die Idee, das Kind früher ins Bett zu schicken oder dem Teenager zu verbieten, die halbe Nacht vor dem Computer zu verbringen. Eberhard geizt nicht mit Kritik.
ZEIT: Deutschland hat sich lange an Schweden orientiert, wenn es um Kinderbetreuung und Gleichberechtigung ging. Nun sagen Sie: Hört endlich auf, uns zu folgen!
Eberhard: Weil wir den Bogen überspannt haben. Wir haben die Liberalisierung nicht mehr im Griff, und das Thema Gleichberechtigung ist zu einem gesellschaftlichen Dogma geworden. Wir alle geben unsere Kinder mit einem Jahr in die Krippe. Dann arbeiten Mutter und Vater möglichst gleichberechtigt, möglichst gleich viel, möglichst auf gleichwertigen Positionen. Keiner soll hinter dem anderen zurückstehen. Arbeit ist der einzige Weg, ein Mensch zu werden. Das bekommen wir von klein auf so vermittelt. Elternschaft an sich ist kein Wert mehr. Eltern müssen sich sofort erklären, wer wie lange zu Hause bleibt und wer wie viel dann wieder arbeitet.
Das Telefon klingelt. Seine Frau ist dran. Er soll die Wäsche aufhängen. Das Bettzeug des jüngsten Sohnes muss bis zum Abend trocknen. Er unterbricht das Interview, um die Hausarbeit zu erledigen.
ZEIT: Was ist, wenn eine Frau länger zu Hause bleibt?
Eberhard: Das kann sich keine Frau mehr leisten. Die Schuldzuweisungen wären enorm. Sie wäre eine Verräterin an ihrem Geschlecht, reaktionär und altmodisch.
ZEIT: Hen, das geschlechtsneutrale Personalpronomen, wurde jetzt offiziell in den schwedischen Sprachschatz aufgenommen. Damit soll vermieden werden, von einem Kind als "er" oder "sie" zu sprechen.
Eberhard: Das ist Kindesmissbrauch, und zum Glück wird das bisher nur in wenigen Einrichtungen praktiziert. Diese Gleichmacherei ignoriert sämtliche biologischen Erkenntnisse über die Entwicklung von Kindern. Wir haben ein riesiges Problem mit Jungs im Teenageralter. Die kommen in den Schulen nicht mehr zurecht, weil sie keiner mehr wie Jungs behandelt.
ZEIT: Sind schwedische Schulen im internationalen Vergleich deshalb so abgerutscht?
Eberhard: Nicht nur. Das liegt auch an unseren Lehrern. Ihr Ansehen ist miserabel. Die Kinder sehen nicht ein, dass sie auf ihre Lehrer hören sollen, wenn sie auch auf ihre Eltern nicht hören müssen. Die Folge sind sinkende Leistungen. Die schwedischen Schüler sind laut Pisa-Studie Spitzenreiter im Schuleschwänzen, Beschimpfen von Lehrern und in Vandalismus. Und nicht zu vergessen: in Sachen Selbstbewusstsein!
ZEIT: Typisch für Kinder, die immer im Zentrum der Fürsorge und Aufmerksamkeit standen.
Eberhard: Ja, und diese "Mittelpunkt der Welt"-Kinder werden dann groß und landen zum Beispiel in der schwedischen Fernsehshow Idol. Dort suchen sie Gesangstalente, den Superstar von morgen. Da gehen manche hin und können überhaupt nicht singen. Das wissen sie aber nicht. Die Jury fällt aus allen Wolken und sagt: Hat dir denn nie jemand gesagt, dass du nicht singen kannst?
ZEIT: Ihre Eltern waren zu feige?
Eberhard: Die wollten das arme Kind nicht traumatisieren. Aber so ziehen wir freche Rotzlöffel heran, die ein völlig falsches Bild von ihren eigenen Fähigkeiten mit auf den Weg bekommen. Sich nur auf das Kind zu fokussieren ist eben doch nicht die beste Erziehungsmethode der Welt. Wäre sie das, würden unsere Kinder uns mehr lieben als irgendwo sonst. Aber das ist nicht so. Sobald wir alt und gebrechlich sind, stecken sie uns ins Pflegeheim. In anderen Ländern halten die Familien zusammen, da sind die Eltern auch im Alter noch etwas wert. 



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