15. Januar 2015

"Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt"

Markus Möhl, Unternehmer und Präsident der Berufsschule Lenzburg, sieht grosse Defizite bei den Schulabgängern. Das Bildungssystem habe sich vom Markt weg entwickelt, kritisiert er.




Markus Möhl: Integration vernachlässigt die Normalen, Bild: Chris Iseli

"Wir brauchen Jugendliche, die schreiben und rechnen können", Aargauer Zeitung, 15.1. von Hans Fahrländer


«Bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann eine Gedichtsanalyse schreiben. In vier Sprachen.» Das schrieb die 17-jährige deutsche Schülerin Naina K. aus Köln auf Twitter. Die gegenteilige Meinung vertritt Hans Zbinden, ehemaliger Nationalrat und Vater der Bildungsartikel in der Bundesverfassung. Er hat kürzlich in der az festgestellt: «Die ursprünglich universelle Bildung wird schleichend auf eine beschäftigungs- und marktrelevante Ausbildung reduziert.»

Markus Möhl, Sie sind KMU-Unternehmer und zudem Präsident einer Berufsschule. Wer hat recht: Naina K. oder Hans Zbinden?
Markus Möhl: Aus meiner Sicht zeigt sich in der Wirtschaft ein klares Bild. Das Bildungssystem hat sich vom Markt weg entwickelt. Bildung, wie sie an der Volksschule vermittelt werden muss, wird zum sinnentleerten Selbstzweck, weil sie in der Praxis nicht mehr nutzbar ist.
Was läuft falsch in der Schule?
Für mich ist die Frage falsch gestellt. Nicht die Schule läuft falsch, sondern die Vorgaben für die Bildung zielen nicht auf die Lebens- und Wirtschaftstauglichkeit der Jugendlichen. Das Bildungssystem orientiert sich heute weitgehend am einzelnen Kind und seiner individuellen Förderung.
Was spricht gegen diese Praxis?
Das ist grundsätzlich richtig und sozial. Doch mit steigender Schülerzahl sind Lehrkräfte mit den zur Verfügung stehenden knappen Ressourcen kaum in der Lage, Hochbegabte, Verhaltensauffällige und Lernzielbefreite individuell zu fördern. Der Preis für die Integration von Kindern mit speziellem Betreuungsaufwand ist die Vernachlässigung der Durchschnittlichen und Normalen.
Was sind aus Ihrer Sicht die Folgen?
Wir haben heute häufiger Lehrlinge im Betrieb, die nach der Sekundarschule die Grundrechenoperationen nicht können, nicht wissen, was eine Summe ist, für den Zahlenbereich über 10 den Taschenrechner brauchen und ernst zu nehmende Schreib- und Lesedefizite aufweisen. Zudem sind immer mehr Jugendliche nicht mehr belastbar.
An was fehlt es ihnen?
Bis zur Lehre werden die Jugendlichen heute durch Schule und Eltern einzeln gefördert. Durch individuelle Lernziele und vermehrt selbstgesteuertes Lernen erleben sie kaum, was Scheitern bedeutet. Sie erfahren zu selten, wie es ist, ein Problem selber lösen zu müssen. In der Lehre und der Berufsschule werden sie dann mit der Realität, das heisst mit Frontalunterricht und Leistungsforderungen konfrontiert. Das führt in den Lehrbetrieben immer wieder zu Schwierigkeiten. Mit der Individualisierung werden grundsätzlich die Interessen des Einzelnen über das Wohl der Gesellschaft gesetzt. Das fördert den Egoismus und schadet letztlich allen.
Am Schluss der Volksschule im Aargau sind Änderungen vorgesehen. Abschluss- und Übertrittsprüfungen droht die Abschaffung.
Es gibt in der ganzen Volksschule immer weniger Prüfungen, die Meilenstein-Charakter haben. Die Kinder und Jugendlichen lernen nicht, mit Druck umzugehen. Für den Übertritt zählt der Schnitt der Noten, bei Eltern mit Diskussionspotenzial resignieren die Lehrer, um einem aufwendigen Rekurs aus dem Weg zu gehen. Nun soll auch im Aargau der Nachteilsausgleich (NTA) eingeführt werden. Schüler mit einem Handicap können damit Hilfsmittel aller Art brauchen. Damit werden sämtliche Leistungen relativiert. Wer kein Defizit hat, ist benachteiligt, weil er seine Leistung ohne Hilfsmittel erbringen muss.
Wenn es keine verlässlichen Massstäbe mehr gibt, machen die Lehrbetriebe selber Prüfungen.
Das ist eine logische Folge. Wir wissen als Abnehmer nicht mehr, was ein Sekundarschüler mit einem Schnitt von 5,0 wirklich kann. Was bleibt, ist der Eignungstest. Er ist heute bei vielen Firmen die Regel. An der Berufsschule müssen Lernateliers eingerichtet werden, wo Stoff vermittelt wird, der eigentlich an die Volksschule gehört. Anspruchsvollere Berufe wie etwa Elektriker haben Durchfallquoten an den Lehrabschlussprüfungen im Bereich von 30 Prozent.
Teilen Sie die Ansicht von Bundesrat Schneider-Ammann, dass es mehr Lehrlinge und weniger Gymnasiasten braucht?
Grundsätzlich ja. Die Maturitätsquote im Aargau ist in den letzten Jahren gestiegen. Nachdem die Jugendlichen nicht automatisch intelligenter werden, kann eine Erhöhung der Quote nur bedeuten, dass man die Eintrittshürden und die Ansprüche senkt. Und wenn mittelmässige Schüler an die Kanti gehen, dann sinkt auch das Niveau in den Berufsschulen. Und die Matur ist in der Regel ja nicht das Endziel: Die Maturanden drängen an überfüllte Hochschulen und belegen zu Hunderten Studienrichtungen wie «Internationale Beziehungen», für die ein Markt fehlt. Der Zusammenhang zwischen Maturitätsquote und Jugendarbeitslosigkeit wurde ja bereits nachgewiesen. Andererseits wird es immer schwieriger, schulisch gute Jugendliche zu finden, die einen Beruf lernen wollen.
Die Schulen stehen unter grossem Reformdruck. Den machen sie sich kaum selber, die Vorgaben stammen meistens aus der Verwaltung oder der Bildungspolitik.
Zweifellos muss sich die Schule wandeln, um den Veränderungen in der Gesellschaft Rechnung zu tragen. Die Frage ist aber, ob die Häufigkeit und die Intensität der Reformen stimmen. Ich glaube, die aktuellen bildungspolitischen Reformen gehen von einem idealisierten Menschen- und Gesellschaftsbild aus. Es ist auch im Jahre 2015 kaum so, dass alle Schülerinnen und Schüler gerne zur Schule gehen, gern lernen, sich selber Ziele setzen, selber einen Sinn in dem sehen, was sie machen und lernen.
Was heisst das konkret?
Nehmen wir die Praxis als Massstab, stellen wir noch vor der Einführung des Lehrplans 21 fest: Die Schüler verfügen zwar über vielfältige Kompetenzen, aber es mangelt an den «Basics». Wir brauchen Jugendliche, die rechnen und schreiben können. Ich bin deshalb auch skeptisch, wenn Hans Zbinden sagt, die Lehrpersonen müssten sich «von Wissensvermittlern zu Sinnschaffenden» entwickeln.
Wir sind zurück bei Hans Zbinden.

Die Aussage, das aktuelle Bildungssystem sei auf die Wirtschaft ausgerichtet, kann nach dem Realitätsvergleich nicht gestützt werden. Das Schulsystem ist mit einer Firma zu vergleichen, die Spezifikationen macht für Produkte, denen der Markt fehlt. Soll die Schule einen Beitrag zum Glück und zur Sinnfindung der Menschen liefern, muss sie wieder Stoff vermitteln, der in der Wirtschaft gebraucht werden kann. Die Wirtschaft braucht Basiswissen. Was theoretisch wunderbar tönt, in der Praxis aber nicht umsetzbar und anwendbar ist, ist weder sozial noch gerecht. Das gilt für die Lehrerbildung, die Lehrtätigkeit auf allen Stufen, die Schule und die Jugendlichen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen