13. Dezember 2014

Lernen als Prozess

Der Basler Professor Gerhard Steiner sieht den Fokus des Lehrplans 21 falsch ausgerichtet. Anstelle einer starren Fixierung auf Kompetenzen propagiert der Entwicklungspsychologe ein ausgeprägtes Bewusstsein von Lernen als Prozess. Anschliessend zeigt er im Rahmen von sechs Thesen, welche schulischen Massnahmen eine höhere Dringlichkeit verdienen als ein neuer Lehrplan. 
Im Würgegriff von Lehrplan 21, Gerhard Steiner, Juli 2014 




Die Diskussion um den LEHRPLAN 21 (im Folgenden L21), die jetzt in der Öffentlichkeit unüberhörbar ist, nimmt teilweise merkwürdige Züge an. Viele Eltern seien verunsichert, heisst es beispielsweise. Aber sicher nicht durch L21, denn sie haben ihn gar nicht gelesen. Was verunsichert, sind die vielen Informationsbruchstücke und deren Interpretationen. Diese enthalten oft sowohl Klärungen, die man nachvollziehen kann, als auch Beschwichtigungen, die Misstrauen und in der Folge auch Unsicherheit hervorrufen. Im Folgenden soll weder geklärt noch beschwichtigt werden. Vielmehr geht es darum, L21 in einen etwas weiteren Rahmen zu stellen und ihn nicht aus bildungspolitischer, sondern aus ausbildungsbezogener Sicht zu gewichten und ihm alternative Überlegungen gegenüberzustellen.

Hören wir zuerst kurz in Pausenhofgespräche hinein: „Wir sind jetzt gerade am 1. Weltkrieg.“ – „Was nehmt ihr zur Zeit durch?“ – „Die Verschiebung der Kontinentalplatten haben wir letzte Woche gehabt, jetzt kommt dann die Sache mit den vulkanischen und den magmatischen Gesteinen dran.“ In der Schule „ist man an etwas“ oder „man nimmt etwas durch“ oder „man hat etwas schon gehabt“.

Das war früher schon und ist heute noch der einschlägige Jargon. Schule findet statt, immer einem Thema entlang, innerhalb eines solchen oder durch ein solches hindurch. Diese Themen machen die Inhalte von Stoffplänen aus. Während des sog. „Bildungs-Booms“ der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts sollte auch bei uns die Qualität des Unterrichts und der Lernerfolg auf allen Stufen auf ein ungeahnt hohes Niveau gehievt werden. Aus diesem Grund versah man alle zu lernenden Inhalte oder die zu erwerbenden Fähigkeiten und Fertigkeiten mit einer verhaltensbezogenen Zielsetzung, die es erlaubte zu prüfen, ob das erworbene Wissen und Können aufgrund des Unterrichts auch tatsächlich verfügbar war. Und so hiess es dann (anstatt nur gerade den Lerninhalt zu nennen), „den subjonctif anwenden können“ oder „lineare Gleichungen mit zwei Unbekannten auflösen können“. Man sprach bei diesen Formulierungen von der „Lernziel-Operationalisierung“ (der „Sichtbarmachung“ des Zieles mittels eines Verhaltens).

Und heute im L21: Die Schülerinnen und Schüler „...können Gesetze, Regeln und Wertesysteme verschiedener Lebensräume erkennen, reflektieren und entsprechend handeln“ oder „...kennen ausgewählte funktionale Eigenschaften von mit Schwachstrom betriebenen Geräten oder Objekten und können diese konstruktiv verwenden“. Was ist neu an L21? Antwort: die Orientierung an den „Kompetenzen“. Jetzt sind also die „Kompetenzen“ aus der Betriebswirtschaft auch in den obersten Etagen der Bildungspolitik angekommen. Weg von den Inhalten, hin zu etwas Anderem. Deshalb zuerst zum begrifflichen hot spot der aktuellen Diskussion, zu den „Kompetenzen“! Achtung, die Sprache wird jetzt etwas schwierig: „Kompetenzen sind kontextspezifische kognitive Leistungsdispositionen, die sich funktional auf Situationen und Anforderungen in bestimmten Domänen beziehen“ (Kieme, Maag-Merki & Hartig, 2007, p. 9) – eine durchaus treffende, äusserst konzise Charakterisierung von „Kompetenz“ für alle Leserinnen und Leser, die sich in der entsprechenden Terminologie schon auskennen. Und die Verfasser von L21 dürfen wohl dazu gerechnet werden. Für den Hausgebrauch formuliert: Bei den Kompetenzen hat man es mit Fähigkeiten eines Menschen zu tun, die man nicht direkt beobachten kann, etwas, was als geistiges Potential (und daraus abzuleiten auch als Handlungspotential) gleichsam bereit steht, bis es gebraucht wird. Erst der gekonnte Gebrauch dieses Potentials (man spricht dann mit Bezug auf den aktuellen Vollzug von „Performanz“) lässt dann die Kompetenz in Erscheinung treten. Kompetenzen sind basale Wissensbestände, die auf eine Vielzahl von konkreten Aufgaben anwendbar sind, von denen jeweils im aktuellen Fall eine zu bearbeitende vorliegt. Kompetenzen sind somit von allgemeinerer Natur als spezifisches, auf begrenzte Inhalte oder Fragestellungen ausgerichtetes Wissen und Können.

Der kritische Punkt ist nun aber der, dass immer dann, wenn eine Kompetenz auf ihr Vorhanden- oder Nichtvorhandensein überprüft werden soll, ein konkreter Inhalt (ein Lerninhalt), aber nur einer aufs Mal (!), beigezogen werden muss. Damit sind wir wieder bei den konkreten Inhalten, die man doch durch „Kompetenzen“ ersetzen wollte. Beispiel: Man erkennt einen Schüler als kompetent, wenn er (u.a.) „...Lerngelegenheiten aktiv und selbstmotiviert nutzt und dabei Lernstrategien einsetzt“. Ohne einen konkreten Inhalt lässt sich diese Kompetenz (oder diese Facette einer Kompetenz) überhaupt nicht überprüfen. Zwar werden im L21 die zuletzt, d.h. auf hohem Niveau zu erwerbenden Kompetenzen durchaus auf eine differenzierte Art und Weise heruntergebrochen und durch zahlreiche zu erreichende Fähigkeiten (oder Teilfähigkeiten) definiert. Aber auch diese müssen mit Inhalten gefüllt werden, wenn man erkennen will, ob sie wirklich verfügbar sind.

L21 soll dem Rechnung tragen, heisst es doch in der Einleitung (S. 5): „Über die Auseinandersetzung mit variablen Lerngegenständen und Problemlösungen erwerben Schülerinnen und Schüler nicht nur fachbedeutsames Wissen, sondern sie machen auch Lernerfahrungen und erwerben Sach-, Methoden- und Strategiewissen, das sich auf neue Lernzusammenhänge und Anforderungen übertragen lässt“. Als ob sich das alles einfach so im Laufe des Älterwerdens der Schülerinnen und Schüler ergeben würde! Hier liegt der Knackpunkt. Wie soll und wird das alles geschehen? Es geht um die Prozesse des Umgangs „...mit variablen Lerngegenständen und Problemen...“, um die Prozesse der adäquaten Verwertung der „Lernerfahrungen“, wenn sich diese zu einem Wissen höherer Ordnung entwickeln sollen (z.B. zu „Sach-, Methoden- und Strategiewissen“). Genau diese Prozesse sind es, die im Fokus einer Optimierung der Ausbildung stehen müssen; die zu erreichenden „Kompetenzen“ aus L21 haben dabei möglicherweise eine Hilfsfunktion, indem sie die Unterrichtenden bei ihrer Planungsarbeit thematisch-inhaltlich immer wieder an die Stufen oder Stationen der laufenden Ausbildung erinnern.

Viele der im L21 aufgeführten Kompetenzen, vor allem die fachbezogenen Kompetenzen oder Fähigkeiten, sind als mögliche Ziele der Ausbildung durchaus zu verstehen und zu akzeptieren. Man bewegte sich ja auch bisher nicht einfach ziellos in einem Feld und kennt sich daher auch ein wenig aus. Nur entsteht mit L21 immer wieder der Eindruck, als ergebe sich der Erkenntniserwerb oder der Lernfortschritt wie ein notwendiger Ablauf oder ein Automatismus. Die Lernenden „....können....“ (ein paar hundert Mal), die Lernenden „...kennen....“, die Lernenden „...verstehen...“ Sobald die Unterrichtenden über ein hohes Bewusstsein vom Lernen als Prozess verfügen (das gilt für alle Schulstufen), können sie ihre Unterrichtsplanung, die Durchführung und die Evaluation selektiv mit den einigen der aufgezählten Fähigkeiten bzw. Zielsetzungen von L21 abstimmen. So wie L21 aber jetzt vorliegt, ist sein Fokus falsch.

Kleiner Exkurs: Im subtropischen und tropischen Regenwald deponieren Vögel hoch oben im Geäst von starken Bäumen Pflanzensamen. Wenn diese zum Keinem kommen, schicken sie von oben ihre Wurzeln entlang des Stammes des Wirtsbaumes hinunter. Sie umschlingen dann den Stamm auf eine strukturell differenzierte und geradezu ästhetische Art und Weise, erdrosseln dann aber den Baum erbarmungslos (Bilder dazu im Internet zum Stichwort strangler fig). Genau so funktioniert L21: Mit seiner Struktur umfasst er (wörtlich zu nehmen) inhaltlich interessant (allerdings unter der Gefahr einer extremen Atomisierung der Lerninhalte) die gesamte Ausbildung samt ihren Mitwirkenden, den Lehrenden und Lernenden, aber anstatt diese kraft seiner Funktion zu stützen, stranguliert er sie (vgl. den Titel dieses Beitrags).

Es kann an dieser Stelle auf weitere Zitate aus L21 verzichtet werden, weil dieser im Internet leicht zugänglich ist und dort – die nötige Ausdauer vorausgesetzt – im Detail studiert und kritisch begutachtet werden kann. Das ist über weite Strecken anregend und kann sich durchaus lohnen.

L21 mag schweizweit etwas von der erwarteten Harmonisierung von Lehr-Lern-Inhalten bringen, mag auch – das ist aber schon sehr fraglich – aufzuzeigen helfen, wo weiterführende Schulstufen mit ihrem Stoff anschliessen können. Aber er garantiert keinen besseren Unterricht, keine effizienteren Lernprozesse und auch nicht mehr selbstreguliertes Lernen; weder glücklichere Lernende noch begeisterte Lehrende (wer es ist, bleibt es ohnehin, auch ohne L21). Auf ein ausgeprägtes Bewusstsein vom Lernen als Prozess kommt es weit stärker an als auf die in L21 vorliegende umfassende Liste von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die sich vielleicht einmal zu Kompetenzen weiter entwickeln. Es soll hier in sechs Thesen aufgezeigt werden, in welchem Rahmen man L21 sehen kann, vor allem aber, welche schulischen Massnahmen eine höhere Dringlichkeit verdienen und weit mehr zu einer Optimierung der Ausbildung beitragen .






These 1

Die Ausrichtung auf „Kompetenzen“ als übergreifenden Zielsetzungen muss auf die Prozesse des Lehrens und Lernens, also auf den Erwerb allfälliger „Kompetenzen“ umfokussiert werden.

Kommentar

·         Entscheidend sind die Teilprozesse (eigentlich die Mikroprozesse) des Lehrens und Lernens, bei denen es um das Anstossen von Lernprozessen geht (immer an konkreten Einzelinhalten), um die Begleitung dieser Prozesse, um die Bewertung (Evaluation) des erworbenen Wissens und Könnens wie auch der Qualität der eingesetzten Mikroprozesse und schliesslich (meist völlig vergessen) um ein Nachfassen, falls die Ergebnisse nicht zufriedenstellend sind. Hierbei haben freilich wohlstrukturierte Lerninhalte und entsprechend klar definierte Ziele ihren „Ort“ und ihre Berechtigung, aber nicht als „Kompetenzen“, sondern als Teilfähigkeiten oder Teilfertigkeiten, die von den spezifischen Inhalten des jeweiligen Lernstoffes abhängig und geprägt sind. Lernen ist eben hochgradig inhaltsspezifisch. Zwar sind die „Kompetenzen“ von L21 ausdifferenziert (ein Verdienst der Autoren); sie bleiben aber zwangsläufig sehr foral und allgemein.
·         Konstituierende Teilprozesse jedes Lernens sind das Verstehen, das Behalten, das Abrufen und das Anwenden von Wissen und Können. Das Verstehen wird denn auch in der Einleitung zum L21 (und auch später immer wieder) erwähnt. Aber es trifft nicht zu, dass Wissen im Lernen mit L21 eine untergeordnete Rolle spielt, dass nur Fähigkeiten, eben „Kompetenzen“ zählen, wie Bildungspolitiker zur Verteidigung von L21 betonen. Wissen (auch lexikalisches) ist ein konstituierender Bestandteil der sich entwickelnden Intelligenz, wie Franz Weinert vor Jahren schon gezeigt hat (Prof. Franz Weinert wird in der Einleitung zu L21 als Bezugsautor erwähnt). Die Teilprozesse Verstehen, Behalten, Abrufen und Anwenden stehen als Faktoren für ein Lernergebnis in einem hoch interaktiven Verhältnis zueinander, und falls auch nur einer von ihnen schwach ausgebildet ist, wird das gesamte Lernergebnis schwach ausfallen. Solche Zusammenhänge erfasst L21 nicht. Der Fokus hinsichtlich eines effizienten und nachhaltigen Lernens muss auf der Frage liegen, wie diese vier Prozesse substanziell gehandhabt und optimiert werden können – immer inhaltsbezogen und auf Einzelprobleme gerichtet.
·         Die gedächtnispsychologischen und kognitionswissenschaftlichen Grundlagen für die vier genannten Prozesse liefert seit rund 100 Jahren die entsprechende Forschung. Nur sind deren Ergebnisse bis heute noch nicht überall in der Lehrerbildung in einer Form angekommen, die eine didaktische Umsetzung im Unterricht sicherstellen würde.
·         Keine bildungspolitische oder schulorganisatorische Massnahme der letzten Jahre hat die Qualität der Ausbildung nachhaltig verändert oder gar verbessert, weder die jahrgangsgemischten Klassen noch das selbstregulierte Lernen und schon gar nicht betriebswirtschaftlich ausgerichtete Reformen der Schulorganisation. Diese Arten von Schulreformen der jüngeren Vergangenheit und die entsprechenden unterrichtlichen Massnahmen laufen primär auf einem
organisatorischen Makroniveau ab, auf dem die entscheidenden individuellen Lernprozesse kaum tangiert werden.


These 2

Es braucht eine starke Professionalisierung der Bereiche Lehren, Lernen und Gedächtnis in der Lehrerausbildung, verknüpft mit dem Aufbau eines Bewusstseins vom Lernen als Prozess als Gegengewicht zu einer fast ausschliesslichen Stoff- (Inhalts-) bzw. Curriculumorientierung und – neuerdings eben – einer Kompetenzorientierung.

Kommentar

·         „Professionalisierung“ ist nicht gleichbedeutend mit „Akademisierung“.
·         „Professionalisierung“ meint die Auseinandersetzung mit so viel fundierter Theorie in der Lehrerbildung, dass die täglich zu planenden, zu begleitenden und zu evaluierenden konkreten (fächerspezifischen) Lernprozesse adäquat analysiert und im Unterricht umgesetzt werden können. Unterrichtende müssen nicht zu Forschern ausgebildet werden, sondern zu professionellen Anwendern von Forschungsergebnissen. (Wer später dennoch Bildungsforscher werden will, kann nach einer Phase des Unterrichtens mit Gewinn einen solchen Schritt tun.)
·         Die genannten Analysefähigkeiten müssen allerdings explizit erlernt und eingeübt werden, wobei nochmals darauf hinzuweisen ist, dass Lernen ein extrem inhaltsspezifischer Prozess ist: Mathematische Lernprozesse laufen ganz anders ab als die Prozesse des Erwerbs von historischem oder biologischem Wissen oder diejenigen, die manuelle Fertigkeiten sicherstellen. Die hier angesprochene „Professionalisierung“ liegt aber nicht einfach im Bereich der Fachdidaktiken; sie baut auf einer angewandten kognitiven Lerntheorie auf. Spezifisch experimentelle Fragestellungen und Methoden aus der kognitionspsychologischen Forschung sind zwar zur Verfeinerung der Theoriebildung wichtig, dienen aber nur in Ausnahmefällen einer besseren Unterrichtsplanung und -durchführung. Ähnliches gilt auch für die aktuelle neuropsychologische Forschung, deren Ergebnisse nur in beschränktem Umfang und wenn überhaupt lediglich selektiv auf einige Bereiche des Unterrichtens angewandt werden können. Für das Verstehen oder gar Fördern von Lernprozessen im Unterricht bringen sie ausser einer gewissen Attraktivität (vor allem der bildgebenden Verfahren) ernüchternd wenig.
·         Die professionell ausgebildete Fähigkeit zur Unterrichts- bzw. zur „genetischen Stoffanalyse“ („genetisch“ bezieht sich auf die Genese von Wissensstrukturen, hat also nichts mit biologischen Genen zu tun) und das entsprechende Grundwissen dazu ist unabdingbar, um einerseits den Stoff kompetent auszuwählen (soweit die Stoffpläne und Lehrmittel das überhaupt zulassen), ihn aufzubereiten und die Lehr-Lern-Prozesse effizient und nachhaltig zu gestalten (und nicht einfach die Lehrbuchinhalte gemäss dem Lehrerleitfaden nachzubeten), andererseits aber auch um sicherzustellen, dass man als Lehrperson ein für Schüler, Eltern und Behörden verständnisvoller und intelligenter Gesprächspartner ist. Heutzutage ist Professionalität allerdings auch nötig, um gegenüber alles besser wissenden Eltern und/oder Bildungspolitikern kompetent und argumentativ überzeugend auftreten zu können.
·         Unterrichten muss wieder die zentrale Domäne von lernpsychologisch solide ausgebildeten und professionell agierenden Lehrenden werden (mancherorts auch bleiben), eben von „Profis“, denen der Umgang mit Lernschwierigkeiten ebenso selbstverständlich gelingt wie die effiziente Klassenführung (Organisation, Disziplin u.a.m.) oder kompetente Auftritte nach aussen.


These 3

Die Lehrkräfte müssen dringend und schnell wieder mit denjenigen unterrichtlichen Freiheiten ausgestattet werden, die ihren Beruf attraktiv, befriedigend, erstrebenswert und wirksam machen.

Kommentar

·         Lehrerinnen und Lehrer müssen aus den derzeitigen Zwangsjacken von Lehrplänen (einschliesslich L21) und Curricula, von schulinternen Organisationsorgien und administrativen Pflichten befreit werden (etwa vom Schreiben von Berichten, die vielleicht gelesen, aber fast nie mit entsprechendem Feedback versehen werden). All das lenkt vom Kerngeschäft ab, demotiviert in den allermeisten Fällen, brennt aus und tötet nicht nur den Geist.
·         Die Lehrenden müssen mit ihren individuellen Kompetenzen (hoch entwickelten fachlichen und persönlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten) wirken, begeistern und vielleicht sogar auch einmal nach aussen glänzen dürfen. Man muss die fähigen Lehrer bewusst und gezielt zur Kenntnis nehmen, sie vielleicht auch erst einmal aufspüren, ihnen Verantwortung zuweisen und sie in bildungs- bzw. unterrichtsrelevante Entscheide einbinden. Als Frontleute sind sie  dazu nämlich in der Lage.
·         Zur Zeit gehen dem gesamten Bildungssystem in unserem Land ungeahnte Potentiale bei den Unterrichtenden verloren, weil sie kaum Gelegenheit und Zeit bekommen, diese in ihrem jeweiligen unterrichtlichen Umfeld einzubringen oder umzusetzen. Würden Betriebe mit den Potentialen ihrer Kadermitarbeiter so umgehen... (!)
·         L21 ist mit seiner Fülle an Vorgaben für einen Kompetenzaufbau darauf angelegt, die individuellen Potentiale von Lehrenden zu übersehen und wenn nicht, sie noch schneller als bisher zu verdrängen bzw. zu ersticken. L21 wirkt hinsichtlich einer Wahl des Lehrerberufs nicht gerade einladend, mehr noch: er könnte durchaus zu einer weiteren Welle von Kündigungen führen.

These 4

Langfristig wirksamer Unterricht braucht Gelegenheiten zum Üben, d.h. zum Konsolidieren (Festigen, Vertiefen) der aufgebauten Wissens- und Könnensstrukturen und zwar nicht eine oder zwei, sondern gegen eine Zehnerpotenz mehr als heute im Durchschnitt üblich. Diese Forderung legt die Forschung über Experten (im Vergleich zu Anfängern oder Novizen) in verschiedenen Bereichen nahe, und jeder, der weiss, wie berufliche Expertise oder sportliches Training funktioniert, wird zustimmen.

Kommentar

·         Lernen bedeutet immer zwei Dinge: Aufbau (mit dem Ziel „Verstehen“) und Konsolidierung (mit dem Ziel „Festigen des Gelernten“, d.h. behalten und abrufen können). Die Konsolidierung wird im Unterricht sträflich vernachlässigt und dem „Outsourcing“ in die Hausaufgaben und damit den Eltern oder dem Zufall überlassen, sodass vieles, was im Unterricht „durchgenommen“ worden ist, nie zu einem verfügbaren Wissen und Können und schon gar nicht zu einer Kompetenz werden kann (aber man hat es „gehabt“).
·         Die Konsolidierungsaktivitäten (ganz einfach: das Üben) sind auch von verschiedenen Akteuren des Bildungswesens als unwirksam zum pädagogischen „alten Eisen“ geworfen worden; die nötige Zeit zum Üben wurde als Luxus abgetan, und die unterrichtlichen Gelegenheiten dazu wurden mit niedriger Priorität eingestuft. Oder ganz anders: Konsolidierungsaktivitäten sind auch in bildungspolitischen Höhenflügen (samt Volksabstimmungen) z.B. dem Blockunterricht leichtfertig geopfert worden. (Das Postulat „Blockunterricht“ diente als Politikum der Befriedigung charakteristischer Bedürfnisse, vor allem familienorganisatorischer Natur, nicht aber der Verbesserung der Lernbedingungen bei Schülerinnen und Schülern. Der Blockunterricht schadet deshalb den Lernenden, weil er praktisch ausschliesslich auf Kosten der Konsolidierung (Festigung) des Lernstoffes geht, ein stiller, aber massiver Kollateralschaden bildungspolitischen Eifers oder parteipolitischer Profilierung.)
·         Nur erworbenes Wissen und Können, das leicht, rasch, richtig und vollständig abgerufen werden kann, ist für eine Anwendung im beruflichen Alltag und – in der schulischen Ausbildung – für weitere effiziente Lernschritte von Nutzen. Das setzt aber gut geplantes, intensives und wohlstrukturiertes Üben voraus (die Literatur spricht von „deliberate practice“).


These 5

Es braucht eine massiv verbesserte Nutzung der Lernzeit.

Kommentar

·         Wertvolle Unterrichts- bzw. Lernzeit geht verloren, z.B. weil die Unterrichtorganisation nicht automatisiert ist oder in disziplinarischen Problemen und Massnahmen erstickt (z.B. das Fehlen eingeübter Gewohnheiten für den Unterrichtsbeginn, die Organisation von Gruppenarbeiten oder deren Auswertung).
·         Schleichend, aber in der Wirkung noch viel destruktiver wirkt sich die an vielen Schulen aufgekommene Usanz aus, am Freitagnachmittag, am Tag vor Feiertagen oder in der Woche vor den Ferien den seriösen Lehr-Lern-Betrieb zu reduzieren oder einzustellen: aufzuräumen oder Filme anzusehen, ohne jeden Lernzweck, einfach um „fun“ zu organisieren. Das darf nicht sein.
·         10 Minuten ungenutzte oder vergeudete Zeit pro Lektion, z.B. für organisatorische und/oder disziplinarische Massnahmen oder für unnötige Wiederholungen von früher erarbeitetem, aber absolut nicht konsolidiertem Stoff, bedeuten auf vier Schuljahre hochgerechnet nahezu ein verlorenes Schuljahr. Soll einer sagen, das sei unbedeutend.



These 6

Diese These steht zwar erst an sechster Stelle, ist möglicherweise aber in einigen schulischen Belangen die wichtigste von allen: Es braucht dringend eine Ent-Heterogenisierung der Schulklassen im Hinblick auf die Nutzung der Lernfähigkeiten und der Lernwilligkeit. 

Kommentar

·         Lernen ist immer ein Integrieren von neuer Information in aktiviertes Vorwissen, und je homogener dieses Vorwissen von Lernenden ist, desto einfacher, aber auch sicherer ist die Steuerung der Lernprozesse im Klassenverband und desto besser werden die Lernresultate. Hinsichtlich der Effizienz der Lernprozesse und des Lernzuwachses in allen Stoffbereichen ist daher eine möglichst grosse Homogenität hinsichtlich Lernfähigkeit und Lernwilligkeit optimal und daher unbedingt anzustreben.
Wer am Gesagten zweifelt, sollte sich (1) an den Ergebnissen der kognitiv- entwicklungspsychologischen Forschung orientieren u.a. mit ihren Befunden zur „Zone der proximalen Entwicklung“, die von Vygotski und Bronfenbrenner aufgezeigt worden ist, muss (2) das Phänomen der „optimalen Passung“ (ein Begriff von Heinz Heckhausen) studieren und (3) das Wissen über die Entwicklungsschritte beiziehen, wie es von Piaget und seinen Mitarbeitern in Genf vor langer Zeit für die kognitive Entwicklung herausgearbeitet worden ist.
·         Schon einstufige Jahrgangsklassen mit wenig Sonderfällen unter den Schülern weisen im Hinblick auf die Lernfähigkeiten eine respektable (für viele Lehrkräfte bereits erschreckende und kaum zu bewältigende) Heterogenität auf, weil die Lernbiographien der einzelnen Lernenden schon früh deutlich divergieren. Künstlich noch mehr Heterogenität in die Klassen einzuschleusen (aus bildungspolitischen Überzeugungen oder aufgrund pädagogischer Tollkühnheit: jahrgangsgemischte Klassen, integrativer Unterricht, verfrühte sprachliche Durchmischung), widerspricht nicht nur jeder Vernunft, sondern kostet viel Zeit (s. These 5), behindert einerseits die Fortschritte aller Lernenden und erschwert andererseits sowohl die Klassenführung als auch die oft nötige subtile Lenkung der Lernprozesse. Entsprechende Unterrichtssituationen in heterogenen Umfeldern wirken, wenn sie penetrant genug auftreten, ungemein demotivierend – sowohl für lernstarke, wissbegierige als auch für permanent überforderte Lernende, aber auch für Unterrichtende. Solches ist nicht zu verantworten und kann auch (fast) überall ohne grossen Aufwand vermieden werden.
Wer dennoch für eine künstlich vergrösserte Heterogenität in Klassen plädiert, etwa weil nur so soziale Kompetenzen oder Kooperation beim Lernen eingeübt werden könnten, dem sei verraten, dass die oben erwähnte „normale“ Heterogenität innerhalb einzelner Klassen zur Realisierung dieser Ziele heute schon bei Weitem ausreicht.
·         Zwar hat die Schule im Kontext der Erfüllung ihres Bildungsauftrags durchaus die Aufgabe, „...Kinder und Jugendliche unterschiedlicher Herkunft und mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen...“ zu integrieren. Aber die entscheidende Frage ist doch: Wo hinein integrieren? In welchen geistigen und sozialen Kontext, unter welchen Bedingungen und welchen Erwartungen bzw. Zielsetzungen? Was ist für das betreffende Individuum effizient? Was ist sinnvoll?
·         Viele Lehrer sind kaum in der Lage, über Jahre hinweg die Vielfalt an Lehr-Lern- Anforderungen in heterogenen Klassen zu bewältigen und dabei ihre eigene Motivation (manchmal auch die eigene Gesundheit) stabil hoch zu halten. Und auch die permanente Präsenz von Zusatzlehrkräften, die sich bei der gegebenen Heterogenität in vielen Klassen aufdrängt, ist nicht immer hilfreich und macht das Führen einer Klasse nicht immer einfacher.
·         Unterrichtende können auch selber zur Homogenisierung ihrer Klasse beitragen, indem sie der in Mode gekommenen Individualisierung des Unterrichts massiv entgegen treten und die gemeinsamen Lerneraktivitäten und Lernerfolge so oft und so deutlich wie möglich hervorheben: Das kann nämlich zur Manifestation dafür werden, dass eine Klasse ein grosses Team ist, eine verschworene Bande, und dass sich jede und jeder über einen gemeinsam errungenen Erfolg freuen darf: Man gehört zu denen, die es geschafft haben, und alle haben dazu beigetragen, auch wenn einige vor allem mitgerissen worden sind. Entscheidend ist in diesem Moment nur das Dazugehören. Dieser Prozess des bewussten Zusammenschmiedens einer Klasse zu einer Einheit hat eine Wirkung auf der kognitiven, der sozialen wie auch der motivational-emotionalen Ebene und insgesamt auf die Homogenität der Gruppe. Man muss von diesem Prozess nur Gebrauch machen.
·         Zusammenfassend die Konkretisierung von These 6: Die Klassengemeinschaft als erfolgreiche Lerngemeinschaft pflegen; das schafft Homogenität auf vielen Ebenen. Dann aber: keine altersgemischten Klassen, keine Integration extrem verhaltensgestörter oder erkennbar lernunwilliger Schüler, keine Lernenden mit Migrationshintergrund, bevor sie nicht über die „basics“ der Umgangssprache verfügen (ein spezieller Diskussionspunkt), und keine Integration neurophysiologisch oder genetisch lernbehinderter Schüler. Denn sie alle profitieren vom Unterricht in ein und derselben Klasse massiv zu wenig, weil sie nicht mit der „optimalen Passung“ gefördert werden können. Diese ist für angemessene Schritte in ihrem Lernen nötig und für Kontinuität in ihrer Entwicklung (unter den gegebenen erschwerten Bedingungen) unverzichtbar.

Viele Bereiche mit Optimierungspotential für den Unterricht auf allen Stufen sind in diesen sechs Thesen nicht explizit angesprochen (u.a. die Themen Lernstrategien und Lerntransfer). Trotzdem steckt in den Thesen ein hohes Weiterbildungspotential, was man von L21 nicht behaupten kann. Entscheidend ist, dass erkannt wird: L21 trägt zur Lösung anstehender Probleme in unserem Bildungswesen zu wenig bei. Deshalb ist es müssig, nach einer Vernehmlassung an ihm herumzuschrauben; der Fokus bleibt falsch.


Alle Unterrichtenden sollten eingeladen werden, L21 zu lesen, die Einleitung und die Ausführungen zu ihrem Fach und ihrem Zyklus, überzeugende Einsichten und gute Ideen für ihre Arbeit herausgreifen und diese autonom in ihrem Unterricht umsetzen. Dann aber sollen sie L21 in der Schublade verschwinden lassen und sich – in selbstbestimmter Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen – dem Lernen als Prozess und seiner Realisierung zuwenden. 

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