7. Dezember 2014

Lehrer mit Leidenschaft

Die moderne Didaktik propagiert das eigenverantwortliche Arbeiten und Lernen ohne Lehrer. Doch wer in Biografien blättert, wer bei Schriftstellern schmökert, wer von seiner Schulzeit schwärmt, der weiss: Auf die Lehrerin und ihren Unterricht kommt es an. Das bestätigen auch Bildungsforscher - und vor allem die Hattie-Studie.
Lehrer mit Leidenschaft braucht das Bildungsland, Neue Luzerner Zeitung, 6.12. von Carl Bossard



In seinen «Schulmeistereien» erzählt Peter Bichsel, wie er augenblicklich in seine Erstklasslehrerin verliebt gewesen sei. Der kleine Knirps mochtesie, und noch Jahre später
konnte er ihr Kleid beschreiben. Das ist für ihn, so Bichsel, die einzige Erklärung, warum er kein Schulversager wurde. Vielen erging es ähnlich. Auch dem grossen Philosophen Karl R. Popper. Darum widmete er die Autobiografie seiner Lehrerin Emma Goldberger. Ihr ver-danke er sein ganzes Denken und damit eigentlich alles, schreibt er. Ist das heute noch möglich? Lehrerinnen gibt es nicht mehr. Sie sind didaktisch überflüssig und darum ver-schwunden. Mindestens im Pädagogenvokabular. Aus ihnen sind Lehrpersonen geworden, Animatoren und Lernbegleiter, Arrangeure von Lernarchitekturen und sogenannte Lern-Faciliators. Derselbst organisierte Unterricht dominiert; die Schüler arbeiten selbstgesteuert. So lehrt es die Ausbildung, so legen es die Leitplanken des Lehrplans 21 fest. Computer
und Lernprogramme unterstützen dieses Lernen. Doch der ganze technologische Aufwand kann den vital präsenten Lehrer, die engagiert wirkende Lehrerin nicht ersetzen. Entscheidend bleibt der vertrauenswürdige und fachlich versierte Lehrer, der die Kinder für
Neues und Unbekanntes entflammt, es begreiflich macht und mit ihnen übt.

Bildung braucht Persönlichkeit
Das ist kein nostalgischer Rückgriff auf vergangene Zeiten. Für den Lernerfolg ist die Lehrerin oder der Lehrer auch heute noch die zentrale Person. Auf sie und auf ihren Unterrichtsstil kommt es an. Persönliche Begeisterung und fachliche Leidenschaft bilden das Instrumentarium für gutes Lernen. Alle Hirnforscher gelangen zum gleichen Resultat. Das ist der Grund, warum der Neurobiologe Gerhard Roth seinem klugen Buch den Titel gibt: «Bildung braucht Persönlichkeit. Wie Lernen gelingt.» Eine solche Persönlichkeit beschreibt der Zuger Schriftsteller Thomas Hürlimann in Pater Kassian Etter. Der Physiker an der Klosterschule Einsiedeln begeisterte seine Schüler für physikalische Vorgänge und Formeln. «Er war ein exzellenter Lehrer, weil er uns mit seiner Leidenschaft ansteckte.» Die Erkenntnisse der Hirnforscher und die Lehrerporträts von Schriftstellern stimmen in vielem mit den Forschungsergebnissen der Studie des Bildungswissenschaftlers John Hattie überein. Der neuseeländische Gelehrte weist nach: Ausschlaggebend für den Lernerfolg ist der Lehrer; der Unterricht hängt entscheidend von jenem Faktor ab, den die frühere Literatur die «Lehrerpersönlichkeit» nannte. Wegen der Feminisierung ist der Ausdruck politisch nicht mehr korrekt, und doch trifft er zu.

Was zählt, ist der einzelne Lehrer
Lehrerinnen und Lehrer bringen ihre Persönlichkeit in den Unterricht ein – und nicht einfach ihr Wissen oder, wie es heute in der Erziehungswissenschaft heisst, ihre «professionelle Kompetenz». Und zu dieser Persönlichkeit bauen Kinder eine vertrauensvolle Beziehung auf. Vertrauenswürdig und glaubwürdig muss darum der Lehrer sein. Das ist das Funda-ment jeder Schüler-Lehrer-Beziehung und hat nach Hattie einen der höchsten Effektwerte. Lernen basiert auf Vertrauen in den Lehrenden. Und deshalb ist auch qualifiziertes Feed-back zwischen Lehrer und Schüler so wichtig – und zwar beiderseitig: Unterricht als sozialer Austausch zwischen Persönlichkeiten, als «meeting of minds», wie das der amerikanische
Philosoph John Dewey nannte. Darum kommt es nicht einfach auf den einzelnen Lehrer an, sondern auf den Umgang zwischen ihm und seiner Klasse. Gutes, unterstützendes Klassenklima bewirkt viel – genauso wie die humane Energie des Lehrers für seinen Beruf.
Darin zeigt sich die Persönlichkeit. 

Kinder wollen einen Häuptling
Mit der Glaubwürdigkeit dieses Engagements steht und fällt der Unterricht. Und mit der klaren und verständlichen Sprache. Nur so kann ein Lehrer den Unterricht präzis steuern und strukturieren, die Selbsteinschätzung des Leistungsstandes durch seine Schüler fördern und sie beim Lernen gezielt unterstützen. John Hattie ordnet diesenFaktoren hohes Potenzial zu. Und was sagen Primarschüler, wenn man sie fragt, wie ein guter Lehrer sein
soll? Kinder wünschen sich einen Häuptling, dem sie vertrauen und sich darum anvertrauen können. Eines wird immer deutlich: Vor sich wollen Jugendliche einen Dirigenten oder eine Regisseurin erleben, eine menschliche Persönlichkeit, die mit ihnen zusammen den Unterricht gestaltet und sie weiterbringt. «Eigentlich sollte eine gute Lehrerin intelligent sein, aber nicht so, dass unsere Fragen sie nerven», meinte ein Sempacher Schüler. «Und gerecht sollte der Lehrer auf jeden Fall sein.» «Nein, nicht immer», korrigierte eine Mitschü-
lerin: «Ab und zu macht er eine Ausnahme von der Regel. Weil die Ausnahme manchmal gerechter ist als die Regel.» Die Aufgabe ist vielseitig, der Anspruch hoch, die Aussage klar: Kinder wollen geführt werden und in einer Atmosphäre des Vertrauens drei Dinge erfahren: Das, was gelernt werden soll, ist wichtig. Das ist das Erste. Und das Zweite: Die Schüler können diesen Inhalt auch lernen und werden dabei – als Drittes – von ihrem Lehrer unterstützt. Das Gelernte wird sichtbar. Das alles ist etwas ganz Elementares. In der Hektik des Schulalltags und in der Fülle bildungspolitischer Postulate geht es oft vergessen. Da dominieren eher Oberflächenphänomene wie Strukturfragen oder Lernplattformen. Nebensächliches wird bedeutsam und Unwesentliches sichtbar. Zum Tragen kommen Faktoren, die nach John Hattie kaum Effektkraft erzielen wie zum Beispiel altersdurch-mischtes Lernen oder problembasierte Lernprogramme, die gerade schwächere Schüler überfordern. Weil diese Konzepte vordergründig modern wirken, erhalten sie hohe Aufmerk-samkeit.

Den Beruf «leidenschaftlich lieben»
Ein wunderbares Lehrerporträt zeichnetder französische Literaturnobelpreisträger Albert Camus in seinem autobiografischen Werk «Der erste Mensch». Von Monsieur Bernard sagt Camus, er sei «aus dem einfachen Grund, dass er seinen Beruf leidenschaftlich lieb-te, ständig interessant» gewesen. In seiner Klasse fühlten die Kinder «zum ersten Mal, dass sie existierten und Gegenstand höchster Achtung waren: Man hielt sie für würdig, die Welt zu entdecken». Straff-locker war dieser Unterricht, eingebettet in ein unterstützendes Lern-klima, geleitet von einer lehrerzentrierten Schülerorientierung. Albert Camus verehrte seinen Lehrer; Peter Bichsel war in seine Lehrerin verliebt. Camus’ Lehrer und Bichsels Lehrerin
wirkten auf ihre Schüler. Und wie! Auf sie kam es an und auf ihren Unterricht. Die zwei Porträts machen es sichtbar, wie wirksam sie waren. Solche Lehrer würde jede Schulleitung engagieren, und John Hattie gäbe beiden maximale Werte. Von den Kindern ganz zu schweigen.

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