9. September 2014

"Die Theoretiker haben der Praxis nicht vorzuschreiben, wie sie sein soll"

Der Bildungswissenschafter Roland Reichenbach gehört zu den Kritikern des neuen Lehrplans. In einem Interview nimmt er Stellung und weist auch auf die Bedeutung des Faches Religion für unseren Kulturkreis hin.






Reichenbach erinnert sich nicht mehr gut an seine Schulzeit in Gstaad, Bild: Uni Basel


"Kritik, ja - aber nicht ständig neue Reformen", reformiert.info Evangelisch-reformierte Zeitung für die deutsche und rätoromanische Schweiz, von Delf Bucher und Rita Jost





Sie gingen neun Jahre in Gstaad zur Schule. Was wissen Sie noch aus jener Zeit?
Nicht viel. Ich erinnere mich vor allem an Pausenerlebnisse und die Probleme, die ich mitverursacht habe. Und noch etwas: Einmal mussten wir über die Sommerferien ein Tagebuch schreiben. Mein Vater war Milchmann, und ich ging ab und zu mit ihm auf Tour. Das habe ich dann da aufgeschrieben. Schade, dass ich dieses Heft nicht mehr habe …

Und was haben Sie in der Gstaader Schulstube fürs Leben gelernt?
Vielleicht das: Wir erlebten in der Schule eine gewisse Ruhe, zeichneten und schrieben Dinge von der Tafel ab, die die Lehrerin aufgeschrieben hatte. Das Wiederholen geniesst heute leider keinen guten Ruf mehr. Obwohl jeder, der ein Instrument lernt, jede, die im Sport gut sein will, weiss: Lernen heisst, das Gleiche immer wieder tun.

Das ist langweilig, wird man Ihnen sagen.
Schule ist erfahrungsgemäss immer wieder langweilig. Das ist nicht zu umgehen. Manchen geht es zu langsam voran, sie hoffen auf mehr Inspiration, andern zu schnell. Es gibt so etwas wie die Kultur der Ineffizienz. Man muss oft Zeit verlieren, damit man etwas gewinnen kann.
Sie scheinen das Widersprüchliche zu mögen: Das Langsame, das schneller zum Ziel führt; das Bewahrende, das tatsächlich den Fortschritt bringt.
Mein Wunsch ist es in der Tat, dass man dem Bewährten mehr Beachtung schenkt. Heute will die Schule ständig mit der beschleunigten Zeit, mit den rasanten Entwicklungen mithalten und packt den Lehrplan voll. Die Dinge werden nicht mehr vertieft. Doch die Schule sollte einen Gegenpol bilden, für Ruhe sorgen, Gelegenheit bieten, dass sich Erlerntes setzen kann. Dafür braucht es Wiederholung – und auch Mut zur Lücke.

Das klingt konservativ.
Dass man Methoden und Lerntechniken mit Begriffen wie progressiv und konservativ etikettiert, ist Unfug. Schule soll nicht alle gesellschaftlichen Trends kopieren. Schule soll ein Ort sein, wo die jungen Menschen gestärkt werden, etwas gut zu machen, sorgfältig Hefte zu gestalten oder zu lernen, sauber zu argumentieren.
Das sind unbestrittene Ziele.
Bestritten wird aber, dass der Lehrer für das Erreichen dieser Ziele verantwortlich ist. Heute wird die Rolle der Lehrperson geschwächt. Und man sagt: Die Lehrperson ist Gestalterin der Lernumgebung, Trainer, Leiterin von Lernprozessen, Coach …

Also zurück zum alten Schulmeister?
Heute gilt man als Nostalgiker, wenn man sagt: Die Schüler sollen zuerst zuhören lernen. Aber machen wir uns doch keine Illusionen: Der Lehrer steht immer in der Mitte. Ihn zum Lerntrainer zu machen, heisst doch nur, seine Autorität zu kaschieren. Solange klar ist, dass die Person da vorne die Fäden in der Hand hält, kann man sich auch gegen ihn auflehnen.

Und was macht einen guten Lehrer aus?
Ein guter Lehrer, eine gute Lehrerin vermitteln dem Kind: Mein Fach ist wichtig. Und zwar auch dann, wenn das Kind das Fach nicht mag. Und der Lehrer markiert auch: Ich will, dass du das lernst! Denn es ist wichtig, und du kannst das verstehen.

Und beim Lehrplan 21 bleiben diese Grundanforderungen auf der Strecke?
Das ist nicht sicher. Die Umsetzung des Lehrplans 21 kann man aktuell nicht kritisieren, weil er noch nicht praxiserprobt ist.
Aber Sie kommentieren den neuen Lehrplan kritisch.
Meine Kritik richtet sich gegen die ausschliessliche Kompetenzorientierung. Die Idee, dass man sämtliche Lehr- und Lerninhalte kompetenztheoretisch erfassen will, ist naiv. Die Annahme beim Lehrplan 21 ist ja: Der Sinn eines Lerninhalts ist nur gegeben, wenn es einen Transfernutzen gibt, wenn man also das Gelernte direkt nutzbar machen kann.

Das ruft auch in Kirchenkreisen Kritik hervor. Denn das Fach Religion bietet keinen konkreten Nutzen für den Arbeitsmarkt.
Das ist ein gutes Beispiel, warum es nicht alleine auf Kompetenzorientierung ankommt. Bedeutsam an der Religion ist ja gerade, dass sie letzte Fragen stellt und dass sie den Menschen – ähnlich wie die Kunst – zurechtrückt. Sie vermittelt einen Sinn für Transzendenz. Sie lehrt Bescheidenheit. Und: Religion ist Kultur. Wer meint, dieses Wissen sei unwichtig, der irrt gewaltig. Demokratie, ihre Entstehung und Bedeutung kann man ohne die jüdisch-christliche Ethik des Verzeihens gar nicht begreifen.

Eine Plädoyer für die Beibehaltung des Fachs Religion?
Ich bin kein gläubiger, aber trotzdem ein religiöser Mensch. Ich finde Religion aus bildungstheoretischen Gründen wichtig für das Abendland. Deswegen ist es bedauerlich, dass das Wissen von biblischen Geschichten heute so gering geschätzt wird. Das ist meines Erachtens ein grosses Manko.

Warum?
Man muss den Kindern vermitteln, dass die Bibel für Gläubige und Ungläubige ein Kulturwerk ist, ein Buch mit unheimlich guten Geschichten. Da werden so radikale Erfahrungen vermittelt, das muss man einfach wissen.

Zurück zur Schweizer Bildungspolitik. Braucht es denn keine Bildungsreform?
Für den Lehrplan 21 jedenfalls gibt es keine Notwendigkeit. Das Schweizer Bildungssystem ist gut, es schlechtzureden, ist gefährlich.

Die internationale PISA-Studie hat der Schweiz aber keine Supernoten ausgestellt.
PISA-Zahlen sagen wenig über die Güte des Bildungssystems aus. Aussagekräftiger wäre es zu schauen, wie viele Patente, wie viele Erfindungen eine Nation hervorbringt, wie viele ihrer Jugendlichen Anschluss in der Arbeitswelt finden. Die Schweiz hat beispielsweise die höchste akademische Publikationsrate und eine der niedrigsten Jugendarbeitslosigkeitsraten weltweit.

Alles bestens also in der Bildungslandschaft Schweiz?
Man darf die Schule kritisieren, aber die ständigen Reformen und Verbesserungen haben einen negativen Einfluss auf die Lehrerschaft. Viele empfinden dies als eine schleichende Illoyalität. Lehrpersonen werden gestärkt, wenn die Institution Schule anerkannt wird.

Haben Sie eine pädagogische Utopie?
Wir müssen lernen, mit Widersprüchen zu leben. Moderne Gesellschaften sind widersprüchlich. Die Schule als Teilsystem davon ist es naturgemäss auch. Das zu akzeptieren, heisst, gemeinsam Verantwortung tragen. Hannah Arendt hat Sokrates ungefähr so zitiert: «Wenn du den Wind des Denkens erweckt haben wirst, wirst du merken, dass du nichts in der Hand hast als Ratlosigkeit. Und es immer noch das beste, sie zu unserer gemeinsamen Sache zu machen.»

Und was heisst es für die Praxis, wenn wir gemeinsam feststellen, dass wir ratlos sind?
Zuerst einmal müssen wir akzeptieren, dass Theorie und Praxis zwei verschiedene Ebenen sind. Der Theoretiker analysiert, beobachtet, forscht. Der Praktiker setzt um und übernimmt Verantwortung. Hierfür braucht er aber einen geschützten Raum, wo er auch Fehler machen darf. Den Raum müssen wir ihm bieten. Wir wissen nie, was das Beste ist, aber wir müssen eine Basis finden, damit gute Entscheide gefällt werden können. Ganz wichtig ist: Die Theoretiker haben der Praxis nicht vorzuschreiben, wie sie sein soll. 


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