31. Juli 2014

Wohldurchdachte Lernarchitekturen

Die Breitseite von Roland Reichenbach gegen die Reformhektik unserer Tage, insbesondere bezüglich des selbstgesteuerten Lernens, fordert den Direktor der PH FHNW, Hermann Forneck, zu einer Reaktion heraus. Forneck wirft Reichenbach Innovationsabstinenz vor, räumt aber ein ..."in der Einführung von pädagogischen Innovationen, für die wir die Erfolgsbedingungen noch nicht geschaffen haben, liegt die Problematik vieler gegenwärtiger Innovationen". 





Forneck: Clou des selbstgesteuerten Lernens erkannt. Bild: FHNW


Professionalisierung statt Innovationsabstinenz, NZZ, 31.7. von Hermann Forneck







Roland Reichenbach beklagt in der NZZ vom 26. 7. 14 einen pädagogischen Gottesdienst, dem die Innovation «selbstgesteuertes Lernen» entstamme. Das kulturelle «Mantra» habe die Tendenz, alles, was vom Selbst komme, positiv zu bewerten. Deshalb will Reichenbach der Schule die Selbststeuerung des Lernens austreiben und macht sich für den lehrerzentrierten Unterricht stark. Seine polemische Zuspitzung führt aber in die falsche Richtung, weil der eigentliche Clou des selbstgesteuerten Lernens von ihm verkannt wird.
Wie angemessen ist der Begriff?
War im 19. Jahrhundert die Schule die zentrale Institution des kanonisierten und systematisierten Zugangs zum Wissen, so hat sie seit einigen Jahrzehnten diese Funktion weitgehend verloren. Der Lehrervortrag im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, also der lehrerzentrierte Unterricht, verband die Kenntnisnahme von etwas Unbekanntem mit der vertieften Beschäftigung mit einer Sache. Schüler benötigen heute keinen Lehrervortrag, wenn es um Tiere in Afrika geht. Sie haben in ihrer Lebenswelt durch die Revolutionierung der medialen Repräsentation der Wirklichkeit immer schon einen Zugang zum Wissen, wie afrikanische Tiere aussehen, wie sie klassifiziert sind usw. Was Schule heute vielmehr leisten muss, ist, anzuleiten, diesem meist zusammenhanglosen, unsystematischen Wissen einen sowohl persönlich als auch gesellschaftlich bedeutungsvollen Zusammenhang zu geben. Im Zuge dieser Funktion sollen Lehrpersonen von einfachen Wissensvermittlungs-Funktionen entlastet werden. Zugleich sollen sie dadurch frei werden, «höherwertige» lerndiagnostische, lernfördernde und unterstützende Aufgaben zu übernehmen. Die Steuerungsfunktion der Lehrperson wird im selbstgesteuerten Lernen bezüglich der stofflichen Vermittlung auf apersonale Medien übertragen, und die Einflussnahme auf den Lernprozess wird intensiviert. Die erziehungswissenschaftlichen und fachdidaktischen Bemühungen zur Entwicklung selbstgesteuerten Lernens zielen also auf eine qualitative Aufwertung der professionellen Tätigkeit der Lehrpersonen, die durch einen Funktionswechsel der öffentlichen Schule notwendig wird.
Im Zuge dieser Funktionsverlagerung kommt es nicht zu einem Zurückdrängen der Didaktik, sondern zu einem Bedeutungsgewinn der didaktischen Aufbereitung von Lernmaterialien, bis hin zu wohldurchdachten Lernarchitekturen. Lernmaterialien können didaktisch und methodisch sehr sorgfältig und für unterschiedlich lernende Schüler entwickelt werden. Solche Lernmaterialien enthalten für Lehrpersonen Hintergrundanalysen über zu erwartende Lernschwierigkeiten, diagnostische Hilfsmittel und ausgearbeitete Fördermassnahmen mit Lernaufgaben. Zugleich wird der Lehrer vom Frontalunterricht entlastet und kann sehr intensiv das individuelle Lernen befördern, was fördern und fordern, verbindliches Einhalten von Abmachungen, individuelle Hilfestellungen, qualitative Bewertung des Lernergebnisses einschliesst.
Innovation und Bildungssystem
Das Lehr- und Lerngeschehen ist also auf einem ganz anderen Niveau realisierbar, als dies der «lehrerzentrierte Unterricht» vermag. Man darf also nicht der begrifflichen Oberfläche selbstgesteuertes Lernen aufsitzen, denn bei einem analytischen Blick verbirgt sich hinter der Vokabel der Selbststeuerung eine qualitative Verbesserung von Lehr- und Lernprozessen und kein pädagogisches Mantra.
Zu einem wesentlichen Bereich der Forschung und Entwicklung pädagogischer Hochschulen gehört die Entwicklung des oben angedeuteten Lernmaterials, der pädagogischen Diagnostik und der Förderungsoptionen. Auf dieser Ebene erfüllen sie einen wesentlichen Beitrag zu einer praktisch bedeutsamen Entwicklungs- und empirischen Forschungsarbeit, die nachhaltig unsere Schulen verbessern hilft. So hat das Bildungssystem eine reelle Chance, sich von pädagogischen Glaubenskriegen fernzuhalten. Analytisch geht diese Forschung und Entwicklung von der Einsicht aus, dass es nicht pädagogische Begriffe sind, die pädagogische Wirkungen prägen, sondern dass analytisch durchdrungene und empirisch auf ihre Wirkungen geprüfte Konzepte auch seriös umgesetzt werden müssen, um erfolgreich sein zu können. Dann aber wird die Innovationskritik Reichenbachs und ihre falsche Alternative, die Wahl zwischen einem monatlichen oder einem hundertjährigen Innovationszyklus, inhaltlich wenig überzeugend. Vielmehr stehen wir vor der Alternative, ob wir genügend empirisch abgestütztes Wissen, sorgfältig entwickeltes Material und didaktisches Know-how haben, um eine sinnvolle Entwicklung zu wagen, oder ob wir, angesichts des Fehlens dieser Voraussetzungen, eine Innovation noch nicht umsetzen. In Letzterem, nämlich der Einführung von pädagogischen Innovationen, für die wir die Erfolgsbedingungen noch nicht geschaffen haben, liegt die Problematik vieler gegenwärtiger Innovationen. Die zukunftsweisende Perspektive liegt nicht in einer Innovationsabstinenz, sondern in einer Professionalisierung des schulischen Wandels.

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