13. Juli 2014

Wenn die Sonderschulen abgeschafft würden

Die Schweiz hat im Mai  dieses Jahres die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet. Damit hat sie sich ebenfalls für die Schaffung eine inklusiven Bildungssystems verpflichtet. Deshalb fordert die Berner SP-Grossrätin Eva Baltensperger, Präsidentin des Vereins "Volksschule ohne Selektion", eine intensive Auseinandersetzung mit den möglichen Auswirkungen. 




Leicht lernbehinderter Schüler in einer Regelklasse, Bild: G. Lüchinger

Wenn die Sonderschulen abgeschafft würden, Bund, 11.7. von Mireille Guggenbühler


Eva Baltensperger, SP-Grossrätin und Präsidentin des Vereins Volksschule ohne Selektion, hat in den letzten Monaten interessiert nach Deutschland geschaut. Denn dort ist gerade eine grosse Debatte im Gang: nämlich darüber, was für ein Schulsystem das Land eigentlich will.
Oder etwas beispielhafter ausgedrückt: Schüler Henri, wohnhaft in einem deutschen Bundesland, hat eine ganze Nation gespalten. Und zwar in der Frage, ob es sinnvoll ist, einen geistig behinderten Schüler auf ein Gymnasium zu schicken, wie das seine Eltern gerne gemacht hätten, damit ihr Sohn weiterhin mit seinen Freunden zur Schule gehen kann. Die Schulkonferenz lehnte die Schulung von Henri ab mit der Begründung, die Rahmenbedingungen stimmten dafür nicht.
Die Debatte kochte daraufhin hoch, und zwar deshalb, weil Deutschland die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterzeichnet hat. Darin ist unter anderem in Artikel 24 festgehalten, dass sich die Vertragsstaaten einem inklusiven Schulsystem verpflichten. Einem System also, in welchem behinderte Kinder, Jugendliche und Erwachsene nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden und in welchem sie gemäss Konvention ein Anrecht auf «hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen, Sekundarschulen und weiterführenden Schulen haben».
Kanton soll Diskussion anstossen
In der Schweiz gibt es keine Diskussion um einen Fall Henri. Noch nicht. Im Gegenteil: Kaum jemand hat wahrgenommen, dass auch die Schweiz im Mai ­dieses Jahres die UN-Konvention unterzeichnet und sich damit ebenfalls der Schaffung eines inklusiven Bildungssystems verpflichtet hat. Das zumindest fordert SP-Grossrätin Eva Baltensperger in ihrer Funktion als Präsidentin des Vereins Volksschule ohne Selektion. Denn sie findet, dass sich die einzelnen Kantone nun intensiv damit auseinandersetzen müssten, was der Artikel 24 im Detail bedeute. Auch vom Kanton Bern erwarte sie dies, sagt Baltensperger. «Der Kanton Bern muss sich der Frage stellen, was es bedeuten würde, ein inklusives Schulsystem zu schaffen.» Für sie selber ist klar: «Die Zuweisung von Kindern in Sonderschulen oder in Klassen mit besonderem Förderbedarf muss ebenso überprüft werden wie die Selektion während der obligatorischen Schulzeit.» Dies sei nicht kompatibel mit der ­Konvention.
In Deutschland wurde nach der Unterzeichnung der Konvention nicht nur über die Aufnahme von Sonderschülern an weiterführende Schulen, sondern auch über die Abschaffung der Sonderschulen diskutiert.
In der Schweiz hätte die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) gerne verbindlich festgehalten, inwieweit die Schweiz beziehungsweise die einzelnen Kantone mit ihren Schulsystemen die Konvention schon erfüllen. Und zwar vor der Ratifizierung der Konvention. Die EDK, die sich mit der Konvention und Artikel 24 auseinandersetzte, hegte gewisse Befürchtungen die Konsequenzen von Artikel 24 betreffend: «Der Artikel 24 ist auslegungsbedürftig, und wir hätten uns vorgängig eine interpretative Erklärung gewünscht, um allenfalls später Diskussionen zu vermeiden», sagt Gabriela Fuchs von der EDK.
Doch eine solche Erklärung gibt es nicht. Dafür wurde bei Abschluss der Konvention bundesseits darauf hingewiesen, dass die Schweiz die Vorgaben der Konvention aufgrund des Behindertengleichstellungsrechts ja bereits erfülle und ergo eine solche Erklärung nicht notwendig sei.
Auch für Erziehungsdirektor Bernhard Pulver steht fest, dass die Schweiz beziehungsweise der Kanton Bern die Konvention bereits erfüllt. Und zwar weil Artikel 17 im Volksschulgesetz die Schulen unter anderem zur Integration von behinderten Kindern verpflichtet.
Pulver sieht Handlungsbedarf
Dennoch: Pulver sieht durchaus Handlungsbedarf. Wenn er auch nicht gerade die Sonderschulen abzuschaffen gedenkt, so kann er sich zumindest vorstellen, diese künftig den Volksschulen gleichzustellen. Denn: Aufsicht und Finanzierung der Sonderschulen im Kanton Bern sind anders geregelt als bei der Volksschule, zudem haben die beiden Schulen nicht denselben Lehrplan. Für die Sonderschulen ist die Fürsorgedirektion (GEF), für die Volksschule die Erziehungsdirektion (ERZ) zuständig.
Sobald ein Kind als Sonderschüler gilt, ist zudem nicht mehr automatisch der Staat, sondern sind die Eltern für dessen Bildung verantwortlich. Diese unterschiedlichen Regelungen, insbesondere auch, dass nicht der Staat für die Bildung der Sonderschüler zuständig ist, fördert laut Pulver, «dass ein Kind als Sonderschüler gestempelt ist». «Zwischen Sonder -und Regelschüler sollte deshalb nicht mehr unterschieden werden. Künftig dürfte es ganz einfach nur noch Kinder geben, die einen Bildungsanspruch haben», so Pulver. In einem Projekt mit der GEF will die ERZ deshalb prüfen, wie sich eine Annäherung zwischen Sonder- und Volksschule umsetzen liesse.
Doch erfüllt der Kanton damit die Forderungen der UN-Konvention nach einem inklusiven Schulsystem? «Die Frage ist vielleicht die, wie stark integrativ ein Schulsystem am Ende denn sein soll. Heisst Inklusion, dass auch schwerstbehinderte Kinder die Regelschule besuchen sollen?», fragt Pulver. Die Antwort darauf gibt er sich gleich selber: «Ich bin überzeugt, dass es Eltern von behinderten Kindern gibt, welche ihr Kind auch weiterhin lieber in einer Sonderschule wissen.» Pulver kann sich deshalb nicht vorstellen, dass es im Kanton Bern künftig keine Sonderklassen oder -schulen mehr geben wird.


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