27. Juli 2014

"Der Innovationsrhetorik auf den Leim gehen"

Alternative Lernformen sind an öffentlichen Schulen im Trend, sorgen aber immer wieder für Konflikte. Der Zürcher Erziehungswissenschafter Roland Reichenbach hält die aktuelle Entwicklung für bedenklich.

"Es gibt Erneuerungen im Schulwesen, die grossartig sind, dies aber eher einmal im Jahrhundert als einmal pro Monat", Bild: Christian Beutler

"Leider gibt es an den Schulen eine Neo-Manie", NZZ, 26.7. Interview von Lucien Scherrer mit Roland Reichenbach



Herr Reichenbach, in mehreren Zürcher Gemeinden protestieren Eltern und Lehrer gegen alternative Lernformen wie das selbstorganisierte und das altersdurchmischte Lernen. Sie behaupten, diese Unterrichtsformen sorgten für Unruhe und Überforderung. Ist diese Kritik berechtigt oder ein Aufschrei von Ewiggestrigen?
Die beiden Themen, selbstorganisiertes Lernen und altersdurchmischte Schulklassen, sind zu unterscheiden, auch wenn sie oft kombiniert werden. Im Hintergrund des selbstorganisierten Lernens steht das Bildungsziel der Selbstregulation. Diese Vokabel hat momentan eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Die pädagogische Frage ist aber, ob, wann und in Bezug auf welche Inhalte die Schüler und Schülerinnen fähig sind, mehr oder weniger selbstbestimmt und selbstkontrolliert zu lernen. Die Realität des Lernens mag eine ganz andere sein, als der verführende Begriff suggeriert. Gerade mittelstarke und vor allem leistungsschwache Kinder brauchen mehr Führung, Unterstützung und Kontrolle durch die Lehrperson – ihnen könnte ein falsch verstandenes didaktisches Konzept besonders schaden, während die Starken in praktisch jeder pädagogischen Welt gute Leistungen zeigen. 
Sie sagen «könnte schaden» – gibt es dafür Belege?
Ja. Offene Lernformen haben zwar überall einen sehr guten Ruf, aber in empirischen Studien schneiden sie meist höchst ambivalent ab. Gerade dass bei schwächeren Schülern die Leistung sinkt, wenn man ihnen zu viel zumutet, ist gut belegt. So hat der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie festgestellt, dass der Lehrer für den Lernerfolg zentral ist – wobei der Erfolg am grössten ist, wenn er den Unterricht möglichst lenkt und strukturiert. Die Studie hat im Bildungsbetrieb viele Leute verärgert. Denn sie sagt genau das Gegenteil von dem, was heute propagiert wird.
Wie beurteilen Sie das Konzept des altersdurchmischten Lernens?
Zunächst sollte man akzeptieren, dass sich meist eh schon zirka drei Jahrgänge von Kindern in der Regelklasse versammeln. Die Befürchtungen der Eltern, die älteren Kinder würden weniger profitieren, wenn sie mit jüngeren die Klasse teilen, ist aber auch bei den bekannten Versuchen, etwa in der Basisstufe, unbegründet. Altersdurchmischung ist ein Faktum des sozialen Lebens, die Altershomogenität in der Schule ist künstlich und im Grunde neuen Datums. Während altersdurchmischte Gruppen akademisch weder stärker noch schwächer werden, profitieren sie im Bereich des sozialen Lernens.
Inwiefern?
In Untersuchungen hat man festgestellt, dass die Kleinen dank dem Kontakt mit Erst- und Zweitklässlern einen leichten Wissenszuwachs gegenüber Gleichaltrigen aufweisen. Wichtig scheint mir aber, dass ältere Kinder von den Kleinen nicht am Lernerfolg gehindert werden. Diese Befürchtung hört man oft von Eltern mit Aspirationen im Bildungsbereich, aber sie trifft nicht zu.
Was ist mit dem oft ins Feld geführten Lärmpegel?
Das ist ein grosses Problem, aber kein spezifisches des altersdurchmischten Lernens. Im Fall des selbstorganisierten Lernens würde ich dagegen klar von einem spezifischen Problem sprechen. Dieses Konzept ist pädagogisch zu wenig durchdacht. Denn wenn jeder Schüler hauptsächlich für sich selber lernen soll, warum braucht es dann überhaupt noch Klassenzimmer?
Der Lehrer spielt im Fall des selbstorganisierten Lernens nur noch eine (Neben-)Rolle als «Coach». Kommt das gut?
Dahinter steckt die Ansicht, dass alles, was der Mensch selber tut, gut ist. Und dass alles, was von aussen kommt, schlecht ist. Da schimmert die alte Angst vor der Macht des Lehrers durch, die in den siebziger Jahren zu faktischen Berufsverboten für linke Lehrer führte. Heute spricht niemand mehr von «Indoktrinierung», aber es ist, als ob die Lehrperson didaktisch überflüssig gemacht werden soll. Dabei wissen alle, dass sie wichtig ist. Nicht nur jeder, der ernsthaft über seine eigene Schulkarriere nachdenkt, sondern auch die empirischen Bildungsforscher wissen es – oder besser gesagt, sie könnten es wissen, sofern sie bereit wären, dieses biedere Element der schulischen Bildung zu akzeptieren.
Wäre in Zeiten, in denen jeder mit seinem Handy beschäftigt ist, nicht mehr gemeinsamer Unterricht gefragt, unter Anleitung eines Klassenlehrers?
Der meiste Unterricht ist auch heute «lehrerzentriert», was für mich übrigens kein Schimpfwort ist. Klassenlehrer sind besonders bedeutsam. Was kann es Besseres für ein Schulkind geben als eine Lehrperson, die dem Kind drei Dinge zeigt: Erstens, dass das, was gelernt werden soll, wichtig ist. Zweitens, dass der Schüler diesen Inhalt lernen kann. Drittens, dass der Lehrer das Kind dabei unterstützt. Das sind die Elementarien. Der Rest sind eher Oberflächenphänomene, über die viel sinnlos gestritten wird.
Wie wichtig sind Unterrichtssysteme überhaupt für den Lernerfolg?
Wenn mit «Unterrichtssystemen» konkrete Varianten des Unterrichtens gemeint sind, dann ist die positive oder negative Wirkung auf den Lernerfolg sehr gross. Wenn damit das Bildungssystem als Ganzes oder das Schulsystem gemeint ist, dann gilt: Die Wirkung auf konkretes Lernen ist gering. Wie gesagt: Einer der stärksten Faktoren für den Lernerfolg ist die Lehrperson. Statt das anzuerkennen, erfindet man dauernd neue Unterrichtskonzepte und geht damit auf die Kinder los, mitunter getrieben von einem allzu grossen Machbarkeitsglauben.
Dennoch sind neue Lernformen im Trend, gerade an den Pädagogischen Hochschulen. Wie gross ist der moralische Druck auf die Schulen, diesem Trend zu folgen?
Es gibt meines Erachtens verschiedene pädagogische Gottesdienste. Momentan ist typisch, dass das Nicht-Typische besonders hohe Anerkennung bewirkt. Dafür wird der herkömmliche Unterricht mit moralisierenden Argumenten eher schlechtgeredet. Das halte ich nicht für begrüssenswert. Die Stärken «herkömmlichen» Unterrichts gilt es ebenso anzuerkennen. Es ist bedenklich, wenn die Schule der Innovationsrhetorik auf den Leim geht. Erneuerungen sind, wenn überhaupt, nur langsam umzusetzen. Die Trägheit des Systems ist auch ein Garant für Verlässlichkeit und Stabilität, nicht einfach bloss Indiz mangelnder Anpassungsbereitschaft. Es gibt auch in der Schule eine «Neo-Manie», die abzulehnen ist. Es gibt Erneuerungen, die grossartig sind, dies aber eher einmal im Jahrhundert als einmal pro Monat – etwa die Erkenntnis, dass das Kind Bedürfnisse hat, die man ernst nehmen sollte, statt diese zu bekämpfen.
Heute experimentieren die Volksschulen mit individualisierten Lernformen, um der zunehmenden Heterogenität im Klassenzimmer zu begegnen. Wie müsste die Schule Ihrer Meinung nach mit diesem Problem umgehen?
Heterogenität ist ein soziales Faktum, Homogenität eine Illusion. Die Unterschiede zwischen den Menschen können das Unterrichten – aus unterschiedlichen Gründen – extrem erschweren. Zu behaupten, dass diese Probleme mit individualisiertem Unterricht alle gelöst werden können, halte ich für blauäugig. Die Debatte über die Inklusion lernschwacher Schüler zeugt von dieser Manie der politischen Korrektheit. Wer die Schwierigkeiten, Befürchtungen und Hoffnungen von Eltern, Lehrpersonen und Schülern nicht ernst nimmt und es einfach besser weiss, was für die Schule richtig und gut ist, wird in diesem Land meistens früher oder später jäh gebremst. Selbstregulation ist also nicht nur eine Chimäre.
Gemäss herrschender Lehrmeinung ist heute nicht primär reines Wissen gefragt. Im Zentrum stehen Kompetenzen wie Selbständigkeit und soziales Handeln. Teilen Sie diese Einschätzung?
Da niemand etwas gegen Kompetenzen haben kann, handelt es sich auch hier um einen Gottesdienst, um ewig wiederholte, kaum analysierte oder kritisch reflektierte Vokabeln, bildungspolitische und -praktische Mantras. Natürlich sind Kompetenzen wichtig, und natürlich müssen sie gefördert werden. Doch sämtliche schulischen Lerninhalte nur noch durch die Kompetenz-Perspektive zu betrachten, ist so unnötig wie ärgerlich. Richtig ist, dass es Wissen gibt, das nicht unmittelbar «anwendbar» und handlungswirksam ist. Wer das allerdings für problematisch hält, sollte besser nicht im Bereich der Schule wirken.
Roland Reichenbach ist Professor für allgemeine Erziehungswissenschaft an der Universität Zürich. Er ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung und lebt in Basel.


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