8. Mai 2014

Applaus für klare Worte

Eine Basler Lehrerin kritisierte die Widersprüchlichkeit von Reformen in Gegenwart des Erziehungsdirektors Eymann und bekam dafür Applaus von den anwesenden Lehrkräften. Eymann beschwichtigt: "Es gibt im Erziehungsdepartement keine unheimlichen Räume, wo wir uns neue Möglichkeiten ausdenken, die Lehrerschaft zu quälen".
"Wir brauchen wieder mehr Zeit für die Kinder", Basler Zeitung, 8.5. von Nina Jecker


Nina Bernoulli arbeitet seit neun Jahren als Lehrerin in Basel-Stadt. Gestern sprach sie vor fast 2400 Berufskolleginnen und -kollegen – und den meisten von ihnen aus dem Herzen. «Anstatt in unzähligen Sitzungen zu lernen, wie man Formulare ausfüllt, sollten wir endlich wieder mehr Zeit haben, um uns um die Kinder und den Unterricht zu kümmern», forderte die Primarlehrerin. Für ihre klaren Worte an den anwesenden Regierungsrat Christoph ­Eymann erntete sie kräftigen Applaus. «Sie traut sich, öffentlich auszusprechen, was die meisten von uns denken», kommentierte eine Frau im Publikum Bernoullis Kritik.
Die geht noch weiter: Weil die Reformen von den Lehrern derart viel abverlange, bleibe kaum noch Raum für ­Eigeninitiative und Innovationen. Denn diese bräuchten fünf Dinge: Vertrauen, Motivation, Know-how, Zeit und Autonomie. Bernoulli kennt sich mit Neuerungen aus. Die Primarlehrerin arbeitet in Kleinhüningen im Schulprojekt «4 für 2», wo vier Lehrpersonen in verschiedenen Fachbereichen gemeinsam für zwei Klassen zuständig sind. «Das ist Innovation, die uns nicht von oben vorgeschrieben wurde. Wir können so arbeiten, wie wir es für richtig halten.» Aktuell mangle es an diesen Voraussetzungen. «Durch all die Veränderungen finden wir kaum noch Zeit für Projekte.» Ständig müssten Sitzungen abgehalten werden, deren Sinn man teilweise bezweifeln dürfe. «Ich verbringe heute viel mehr Zeit für und in der Schule und habe nicht das Gefühl, dass dadurch mein Unterricht besser geworden ist.» Auch die Autonomie komme in den aktuellen Reformen zu kurz: «Uns wird von oben vorgeschrieben, wie wir zu arbeiten haben. Dabei wissen wir Lehrer am besten, was für unseren Unterricht gut und wichtig ist», so Bernoulli. Dies habe dazu geführt, dass es auch an der Motivation hapere: Beim Aufbau des Projekts «4 für 2» hätten damals alle Beteiligten viele Stunden ihrer Freizeit geopfert. «Wenn ich heute jemanden fragen würde, ob er am Freitag nach der Schule noch ein Projekt entwickeln möchte, würde die Antwort wohl Nein lauten.»
Eymann lädt zur Kritikstunde
Aber nicht nur mit der Umsetzung der Reformen, auch teilweise mit deren Inhalt rechnete Bernoulli – unter Applaus – ab. «Es gibt viele Widersprüche. Mir kommt es vor, als ob die verschiedenen Massnahmen in völlig voneinander getrennten Büros ausgearbeitet worden wären.» So schätze sie die Forderung, die Kinder individuell zu fördern, persönlich sehr. Gleichzeitig würden aber neu flächendeckende Leistungstests wie der Check P3 durchgeführt, mit denen alle Kinder miteinander verglichen werden. «Wie soll ich einem Kind sagen, dass es zwar leistungsmässig im Vergleich völlig abfällt, aber individuell schon auf dem richtigen Weg ist?»
Auch Gaby Hintermann, Präsidentin der Kantonalen Schulkonferenz Basel-Stadt, äusserte sich zum Thema Reformen. Sie wolle gar nicht klagen. Es sei hinlänglich bekannt, dass es für viele Lehr- und Fachpersonen eine schwierige, belastende Zeit sei und nicht wenige «die Schnauze voll» hätten von Reformen. «Wichtig ist, trotzdem handlungsfähig zu bleiben, anstatt ohnmächtig zuzuschauen.» Vom Erziehungsdepartement wünscht sich Hintermann deshalb, dass mehr Zeit eingeplant wird, um einen grösseren Teil der Lehrer einzubeziehen und die Erfahrungen aus der Praxis stärker für den Reform­prozess zu nutzen.
Erziehungsdirektor Eymann reagierte gelassen auf die Kritik. «Eines möchte ich festhalten: Es gibt im Erziehungsdepartement keine unheimlichen Räume, in denen wir uns neue Möglichkeiten ausdenken, die Lehrerschaft zu quälen.» Er sei daher bereit, die vorgebrachten Wünsche zu prüfen. Von Bernoullis Kritik möchte der Politiker sogar noch mehr hören: Er lud die junge Lehrerin zum «Privatissimum», einer Kritikstunde unter vier Augen, ein.


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