4. April 2014

Plädoyer für die Abschaffung des Frühfranzösischen

Zwischen Fragen zu Biberschäden und polnischen Bahnschwellen deutete Bundesrat Alain Berset in der letzten Session kurzerhand das Schweizer Sprachengesetz um. Im Nationalrat lief die Fragestunde, und die Parlamentarier hörten nur mit einem Ohr zu, als er den folgenden Satz sagte: «Der Bundesrat ist überzeugt, dass das Erlernen einer zweiten Landessprache bereits ab der Primarschule nötig und überdies für den nationalen Zusammenhalt von wesentlicher Bedeutung ist.» Alain Berset, der Fribourger, sprach deutsch und wirkte deshalb wie sein eigenes, gutes Beispiel.
Er trat an gegen die Pläne in sieben Deutschschweizer Kantonen, in der Primarschule nur noch eine statt zwei Fremdsprachen zu unter­richten. Pläne, die Berset und der Bundesrat als Angriff aufs Französisch werten.
Der Kulturminister wollte mit seiner Rede Leute ansprechen, die gar nicht im Saal sassen. All die Lehrer zum Beispiel, die nur noch eine Fremdsprache auf der Primarschule wollen und deshalb in den Präsidien kantonaler Initiativen sitzen. Oder mich.
Stop it! Basler Zeitung, 4.4. von Samuel Tanner

Ich bin 22 Jahre alt und besuchte vor etwas mehr als einem Jahrzehnt die Primarschule in Marbach (SG), einem kleinen Dorf im St.Galler Rheintal, jeder Vierte im Turnverein. Am ersten Schultag der fünften Klasse lagen zwei neue, dicke Schulbücher auf meinem Pult: «Envol 5» und ein «Cahier d’Activités». Ab sofort gehörten zwei Französisch-Lektionen zur Schulwoche, eine davon um 7.00 Uhr. Meine Liebe zur Sprache der Westschweiz scheiterte aber nicht nur am Stundenplan.
Das Lehrmittel, «Envol», ist noch heute im Einsatz und wurde einst mit der Versprechung angekündigt, es fördere ein «erstes spielerisches Herantasten an die Sprache». Es ist ein Heran­tasten auf Hunderten von Seiten.
Die Kapitel heissen: «A l’école, on rigole». Oder: «Elle est chouette, mon école!» Auf den letzten Seiten des Buches stand, dass ich bald den französischen Laut «qu» und sein Schriftbild beherrschen würde sowie die Beschaffenheit eines Gegenstandes erfragen könne. Ich lernte Nachmittage lang Wörtchen auswendig und wusste am Ende, was Synchron-Schlittschuhlaufen auf Französisch heisst. Wahrscheinlich habe ich das Wort später häufig gebraucht.
Zu Beginn der Stunde sangen wir manchmal ein Lied, es hiess «Un kilomètre à pied, ça use, ça use». Frei übersetzt: Ein Kilometer zu Fuss ist zermürbend. Mit dem Französisch ging es mir ähnlich. Am Ende der zwei Jahre Frühunterricht hatten wir zwei dicke Bücher durchgearbeitet, hatten wir alles und doch nichts kapiert.
Ça use, ça use.
Meinen Freunden ging es ähnlich, wir tauchten zwei Stunden pro Woche in eine Welt ein, mit der wir sonst nicht in Berührung kamen. Unsere Popstars sangen englisch, den Rapper Stress gab es noch nicht. Erst in der Oberstufe lernte ich leichter, wir verbrachten eine Austauschwoche im Welschland und Ferien in Lausanne – es gab jetzt einen Grund fürs Wörtchenlernen.
Als sich meine Klasse auflöste, wechselten meine Freunde in die grossen Industriebetriebe des Tals, auf ihren Visitenkarten standen bald die Slogans der Arbeitgeber. Think different. When it has to be right. Turn ideas into reality.
Zum Ende meiner Lehre merkte ich, dass ich nach acht Jahren Französisch knapp ein Buch lesen konnte. Nach fünf Jahren Englisch wäre ich imstande gewesen, eines zu schreiben.
Die Buben und Mädchen, die heute in meinem früheren Schulzimmer sitzen, lernen ab der dritten Klasse Englisch und ab der fünften Französisch. Die zweite Fremdsprache, Englisch, kam in den meisten Kantonen der Deutschschweiz dazu, weil die Politiker Angst hatten vor einer zweiklassigen Zukunft ab der Oberstufe. Hier die privat in Englisch geförderten Musterschüler – da die Zweitklassschüler ohne Einzelunterricht und Vorkenntnisse.
Der «Envol»-Effekt
Nun, einige Jahre und noch mehr Erkenntnisse später, wollen viele Lehrer zurück zu nur mehr einer Fremdsprache auf der Primarstufe. Sie sehen, dass etwa ein Drittel der Schüler überfordert ist. Dass Kinder lernzielbefreit werden. Und dass die Grundlagen in der Muttersprache dürftiger geworden sind. Es gibt mittlerweile Schüler, die im Französisch scheitern, weil sie die deutsche Aufgabenstellung nicht verstehen.
Das ist der «Envol»-Effekt: Die Kinder arbeiten sich durch immer mehr und immer dickere Schulbücher. Sie lernen alles und doch nichts.
Vor «Envol» gab es ein Lehrmittel mit dem Namen «C’est pour toi». Es war ein schmales, ein Zentimeter dickes Büchlein. Für beide Primarschuljahre. In diese Richtung sollten wir gehen, finde ich: Weniger Sprachen, weniger Stoff.
Im Schweizer Sprachengesetz steht, dass Schülerinnen und Schüler «am Ende der obligatorischen Schulzeit über Kompetenzen in mindestens einer zweiten Landessprache und einer weiteren Fremdsprache verfügen» müssen. Bundesrat Alain Berset bog sich diesen Artikel an jenem Montag in der Fragestunde des Nationalrats mal eben kurz zurecht. Er ersetzte obligatorische Schulzeit durch Primarschule und machte die bildungspolitische Frage zu einer staatspolitischen. Es ist das Stilmittel verzweifelter Politiker: Aus Fragen Grundsatzfragen machen.
Berset und der Bundesrat irren sich. Der nationale Zusammenhalt hängt – wenn überhaupt – nicht davon ab, wann man mit dem Französischunterricht beginnt, sondern ob. Das Gesetz verbietet es nicht, mit einer der beiden Fremdsprachen erst in der Oberstufe zu beginnen.
Und Englisch eignet sich nun mal besser als erste Fremdsprache, sie ist dem Deutschen und dem Leben der Kinder näher. Sie ist, ob man das gut findet oder nicht, die Sprache der Zukunft. Französisch reden die Dichter, Englisch die Musiker. Noch Fragen?

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