"Bildungspolitik in Schieflage", Bild: profi-l.info
Walter Herzog, Kompetenzorientierung - eine Kritik am Lehrplan 21, 7. 1.
Kompetenzorientierung
– eine Kritik am Lehrplan 21*
Die
schweizerische Bildungspolitik befindet sich in Schieflage. Es fehlen klare
Konzepte, es fehlt eine klare Zielsetzung, es fehlt an politischem Konsens, es
fehlt auch an fachlicher Kompetenz, und es fehlt vor allem eine klare
Begründung für die vielen Reformen, die laufen und laufend neu initiiert
werden. Der Lehrplan 21 ist das jüngste Beispiel für ein unzureichend
legitimiertes Reformprojekt, dessen Scheitern absehbar ist. Ich kann nicht alle
Kritikpunkte anführen, die sich gegen den Lehrplan 21 vorbringen lassen; dafür
ist die Zeit zu knapp. Ich konzentriere mich jedoch auf die wichtigsten Punkte.
Als Erstes
stellt sich die Frage, ob das, was uns vorliegt, überhaupt ein Lehrplan ist. Im
Klinkhardt Lexikon Erziehungswissenschaft (KLE), einem der neueren
pädagogischen Wörterbücher, kann man lesen, dass unter einem Lehrplan im weiten
Sinn ein «Kanon von Lehrinhalten» verstanden wird, «die in eine Abfolge
gebracht und zumeist nach Fächern strukturiert sind» (KLE, Bd. 2, S. 294). Dies
– so heisst es weiter – impliziere «immer normative Vorstellungen von Zielen
institutionalisierten Lehrens und Lernens» (ebd.). Das ist relativ allgemein
formuliert: Es geht um institutionalisiertes Lehren und Lernen, d.h. um Schule,
es geht um Inhalte («Lehrinhalte»), und es geht darum, dass die Inhalte in eine
Abfolge gebracht und normativ festgelegt werden. Es geht aber auch – und das
kommt in dem Zitat etwas zu wenig zum Ausdruck – um den Zweck von Schule und
Unterricht. Wozu sollen die Inhalte ausgewählt und normativ für verbindlich erklärt
werden? Und durch wen soll dies geschehen?
Sobald es um
normative Festlegungen geht, ist die Wissenschaft nicht die richtige
Adresse. Der
Zweck der Schule und deren curriculare Ziele sind in einer demokratischen Gesellschaft
von den Bürgerinnen und Bürgern in einer öffentlichen Auseinandersetzung
festzulegen. Damit bin ich bei meinem ersten Kritikpunkt. Dieser Diskurs über
Sinn und Zweck unserer Schule hat nicht stattgefunden. Eine Vernehmlassung, wie
sie eben abgeschlossen wurde, bildet jedenfalls kein Instrument der
demokratischen Konsensfindung, sondern stellt lediglich eine Form der
politischen Konsultation dar. Das aber heisst, dass dem Lehrplan 21 die
politische Legitimation (bisher) fehlt. Es ist ein behördlich in die Welt
gesetztes Dokument und nicht mehr.
Kritik Nr. 1:
Dem Lehrplan 21 fehlt die politische Legitimation.
Insofern die
Entscheidungsfindung über einen Lehrplan für eine öffentliche Schule einen politischen
Diskurs voraussetzt, muss ein Lehrplan auch so formuliert sein, dass er diesen Diskurs
ermöglicht. Das heisst unter anderem, dass er von den Bürgerinnen und Bürgern
auch verstanden werden muss und dass er einen Umfang aufweist, der eine öffentliche
Auseinandersetzung überhaupt möglich macht. Beide Voraussetzungen werden vom
Lehrplan 21 verletzt. Dies will ich jedoch nicht weiter kommentieren, denn gravierender
scheint mir zu sein, dass auch eine dritte Voraussetzung eines Lehrplans verletzt
wird: Weil ein Lehrplan in einem öffentlichen Diskurs zu beschliessen ist,
stellt er ein bildungspolitisches und kein pädagogisches Dokument dar. Damit
bin ich bei meinem
zweiten
Kritikpunkt:
Kritik Nr. 2:
Der Lehrplan 21 vermischt die Zuständigkeiten und schliesst die Aufgabe
der
Bildungspolitik mit dem Auftrag der Lehrerprofession kurz.
Aufgabe der
Bildungspolitik wäre es, die Richtung vorzugeben, einen Rahmen zu setzen und
für Bedingungen zu sorgen, damit die Richtungsvorgabe innerhalb des gesetzten Rahmens
optimal realisiert werden kann. Ein Lehrplan muss daher relativ offen
formuliert sein (als «Rahmenlehrplan»); auf keinen Fall soll er im Detail
festlegen, was in der Schule und im Unterricht zu tun oder zu erreichen ist.
Davon ist der
Lehrplan 21 weit entfernt. Weder gibt er eine Richtung vor noch setzt er
einen Rahmen;
vielmehr mischt er sich in die inneren Angelegenheiten von Schule und Unterricht
ein. Ausdrücklich heisst es in den Rahmeninformationen zur Konsultation des Lehrplans
21, dieser diene «in erster Linie [!] der Unterrichtsplanung und der
Unterrichtssteuerung» (S. 16). Das muss man zwei Mal lesen, bevor man es richtig
verstanden hat. Der Lehrplan, der ein politisches Instrument ist, übernimmt didaktische Funktionen! Das heisst nichts
anderes, als dass die Politik mit dem Lehrplan 21 bis auf die Unterrichtsebene
durchsteuern will – etwas, was es bisher hierzulande nicht gegeben hat! Die
Folge wird eine Entmündigung der Lehrpersonen und eine Deprofessionalisierung des
Lehrerberufs sein. Es ist kein Geheimnis, dass der Lehrplan 21 mit dem
HarmoS-Projekt liiert ist. Die Liaison zeigt sich insbesondere daran, dass der
Lehrplan 21 an Bildungsstandards und Kompetenzen ausgerichtet ist. In den
offiziellen Dokumenten zum Lehrplan 21 ist es vor allem die
Kompetenzorientierung, die als neu ausgegeben wird. Im Grundlagenpapier zum
Lehrplan 21 (2010) heisst es apodiktisch: «Moderne Bildungssysteme und neue Lehrpläne
orientieren sich an Kompetenzen» (S. 14). Was aber sind «Kompetenzen»? Was
heisst «Kompetenzorientierung»? Hier kommt mein dritter Kritikpunkt:
Kritik Nr. 3:
Es ist ziemlich unklar, was im Lehrplan 21 unter Kompetenz und
Kompetenzorientierung verstanden wird.
In der
Einleitung zum Lehrplan 21 heisst es, Lehrpläne hätten bisher beschrieben,
welche Inhalte
Lehrpersonen
unterrichten sollen. In der Tat, dies ist eine zentrale Aussage des Zitats aus
dem KLE: ein Lehrplan ist ein «Kanon von Lehrinhalten». Das gilt für den Lehrplan
21 offenbar nicht. Dieser beschreibt nämlich – so heisst es weiter in der
Einleitung zum Lehrplan 21 – «was Schülerinnen und Schüler am Ende von
Unterrichtszyklen können
sollen»
(ebd., S. 4 – Hervorh. W.H.). Wenn man dies beim Wort nehmen darf, dann geht es
im Lehrplan 21 nicht um einen Kanon von Inhalten, der von den Lehrkräften zu
vermitteln ist, sondern um ein Können, über das sich die Schülerinnen und Schüler
am Ende der Schule ausweisen müssen.
Dass dies
keine falsche Vermutung ist, zeigt der Lehrplan selber, der ganz in der Sprache
des Könnens abgefasst ist. Seite über Seite liest man: «Die Schülerinnen und
Schüler können ...». Nur selten findet man ein anderes Verb – wie «verfügen»,
«kennen», «zeigen» oder «sind bereit». Einer Litanei gleich wird ein Können
nach dem anderen heruntergebetet, bis man zu guter Letzt beim Können Nr. 4753
angelangt ist. Ist dies mit Kompetenzorientierung gemeint? Ist eine Kompetenz einfach
etwas, was man kann? Das will man nicht so recht
glauben, denn in der Schule ist es doch schon immer auch darum gegangen, dass
die Schülerinnen und Schüler etwas können – dass sie eine Aufgabe lösen können,
eine Frage beantworten können, eine Formel anwenden können, eine Situation
bewältigen können etc. Die elementaren Kulturtechniken des Lesens, Schreibens
und Rechnens stellen genauso ein Können dar wie vieles, was im Sportunterricht,
im Musikunterricht oder in den gestalterischen Fächern gelernt wird. Auch
Praktika im Naturwissenschaftsunterricht sind schon seit jeher auf ein Können ausgerichtet;
von den Fremdsprachen ganz zu schweigen. Wenn es im Glossar zum Lehrplan 21
daher heisst, der Erwerb einer Kompetenz zeige sich «in der Art und Weise der
erfolgreichen Bewältigung einer Aufgabe», dann sind Kompetenzen entweder nichts
Neues für die
Schule oder wir haben noch nicht verstanden, was eine Kompetenz ist.
Denn auch
eine Aufgabe der reinen Mathematik oder der theoretischen Physik lässt sich «erfolgreich
bewältigen», ohne dass wir dafür den Kompetenzbegriff bemühen würden. Weiterhelfen
kann uns daher eine Bemerkung in den Rahmeninformationen zur Konsultation des
Lehrplans 21. Hier heisst es, neu am Lehrplan 21 sei, dass beschrieben werde,
«was alle Schülerinnen und Schüler wissen und können müssen» (S. 9). Nun taucht über
das Können hinaus auch das Wissen auf. Bei Kompetenzen ginge es demnach um
«Wissen und Können». Das wäre aber genauso nichtssagend wie das Können allein.
Denn schon immer hat ein Lehrplan umschrieben, was Schülerinnen und Schüler «wissen
und können» müssen. Es gehört zur speziellen Prosa von Lehrplänen, dass sie im
Indikativ festhalten, was Kinder und Jugendliche nach Abschluss der Schule wissen
oder können. Im Englischen ist zumeist von knowledge and skills die Rede, und zwar auch bei PISA
und auch im Kontext der Standardbewegung (vgl. Herzog 2013). Allerdings scheint
im Lehrplan 21 nicht ein Entweder-oder gemeint zu sein – entweder Wissen oder
Können –, sondern ein Sowohl-als-auch – sowohl Wissen als auch Können.
Zumindest an
einer Stelle – wiederum in der Einleitung zum Lehrplan 21 – wird
genau so
formuliert. In der Beschreibung von Lernzielen in Form von Kompetenzerwartungen
werden «Wissen und Können ... miteinander verknüpft» (S. 4). Dies ist zwar eine
singuläre Stelle, wäre aber aus meiner Sicht ein sinnvoller und zugleich
einfacher Ansatz, um den Kompetenzbegriff zu definieren. Eine Kompetenz wäre
demnach nicht in erster Linie ein Können, sondern ein Wissen, aber ein Wissen,
das mit einem Können verbunden ist. Das scheint aber nicht wirklich die Meinung
des Lehrplans 21 zu sein. Es geht nämlich nicht einfach um eine Zuordnung von Wissen und Können, sondern um
die Unterordnung des einen unter das andere. Man
braucht sich nicht viele der über 4'000 Kompetenzen vor Augen zu führen und
wird schnell feststellen, dass von Inhalten kaum die Rede ist. Wissen ist nur
zugelassen, falls es sich einem Können nachordnen lässt. So liest man –
nochmals in der Einleitung zum Lehrplan 21 –, Kompetenzorientierung heisse, die
«Stoffe und Inhalte» seien «so auszuwählen …, dass … Kompetenzen daran [!]
erworben oder gefestigt werden können» (S. 6). Und, kurz zuvor: «In der
Beschreibung von Lernzielen in Form von Kompetenzerwartungen sind Inhalte
direkt [!] mit daran [!] zu erwerbenden … Fähigkeiten und Fertigkeiten
verbunden; Wissen und Können
… werden
miteinander verknüpft» (S. 4). Wissen ist also nur gefragt, sofern es
erlaubt, eine
formale Kompetenz zu schulen! Aber ist dies sinnvoll? Oder überhaupt möglich?
Meine Antwort ist ein klares Nein. Deshalb mein vierter Kritikpunkt:
Kritik Nr. 4:
Es ist weder sinnvoll noch möglich, schulisches Wissen so zu präparieren, dass
es immer einem Können untergeordnet ist.
Auch wenn
einiges dafür spricht, dass dies – ein Können, dem ein Wissen subsumiert wird –
der Kompetenzbegriff ist, der dem Lehrplan 21 zugrunde liegt, können wir uns dessen
nicht gewiss sein. Denn wenn man sich im Lehrplan 21 noch etwas weiter umsieht,
stösst man auf eine nochmals andere Festlegung des Kompetenzbegriffs. Wiederum in
der Einleitung zum Lehrplan 21 heisst es, die Orientierung an Kompetenzen basiere
«u.a. auf den Ausführungen von Franz E. Weinert» (S. 4). Danach weisen Kompetenzen
mehrere inhalts- und prozessbezogene Facetten auf: «Fähigkeiten, Fertigkeiten und
Wissen, aber auch Bereitschaften, Haltungen und Einstellungen» (ebd.). Im
Glossar heisst es unter «Kompetenz» sogar ohne jede Einschränkung, der Lehrplan
21 stütze sich «auf diesen Kompetenzbegriff», also denjenigen von Weinert.
Damit ist es mit der gewonnenen Klarheit bereits wieder dahin. Zwar nennt der
Lehrplan 21 keine Quelle, jedoch ist offensichtlich, dass man sich auf die
Klieme-Expertise stützt, in der die Definition Weinerts gleich zwei Mal
aufgeführt wird. Demnach sind Kompetenzen «die bei Individuen verfügbaren oder
durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte
Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und
sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll
nutzen zu
können» (Weinert, zit. nach Klieme et al. 2003, S. 21 und 72). Wer kompetent
ist, kann folglich nicht nur etwas, sein
Können wird auch nicht nur durch
ein Wissen gestützt, sondern was er kann und
weiss ist in seiner Persönlichkeit
verankert. Deshalb
ist er motiviert und gewillt, seine Kompetenzen in der richtigen Einstellung und
verantwortungsvoll in variablen Lebenssituationen zur Lösung vielfältiger
Probleme zu nutzen. Mit dieser Definition sind jedoch verschiedene Probleme
verbunden, die zu weiterer Kritik Anlass geben. Erstens fehlt ihr eine
theoretische Grundlage. Weinert lässt keinen Zweifel aufkommen, dass seine
Definition, die er ursprünglich für ein OECD-Symposium ausgearbeitet hat, rein
pragmatisch begründet ist. Im Originaltext Weinerts, der weder in der
Klieme-Expertise noch im Lehrplan 21 zitiert wird, spricht er von Kriterien
einer pragmatischen Definition des Kompetenzbegriffs, deren Erörterung eher
praktischen als theoretischen Nutzen habe (vgl. Weinert 2001, S. 63). Damit
sind wir bei meinem fünften Kritikpunkt:
Kritik Nr. 5:
Dem Lehrplan 21 fehlt eine theoretische Grundlage.
Zweitens
führt die Ausweitung des Kompetenzbegriffs in den Bereich der Persönlichkeit dazu,
dass der Schule in einem bisher unbekannten Ausmass erzieherische Kompetenzen übertragen
werden. Tatsächlich ist die Vielzahl von erzieherischen Kompetenzen, die man im
Lehrplan 21 findet – und dies nicht etwa nur bei den überfachlichen Kompetenzen
– die direkte Folge der motivationalen, volitionalen und sozialen Aspekte des weinertschen
Kompetenzbegriffs.
Ist es aber
eine legitime Aufgabe der Schule, in die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler
einzugreifen und wahllos Dispositionen nicht-kognitiver Art auszubilden? Ich würde
mit Bestimmtheit sagen: nein, dies ist keine Aufgabe der Schule und kann nicht ihre
Aufgabe sein. Damit ergibt sich als sechster Kritikpunkt:
Kritik Nr. 6:
Der Lehrplan 21 weitet den Erziehungsauftrag der Schule unbegründet und unverhältnismässig
aus.
Drittens
verführt Weinerts Kompetenzbegriff aufgrund seiner Theorielosigkeit zur
irrtümlichen Annahme, bei Kompetenzen würde es sich um etwas Anschauliches handeln. In den
Rahmeninformationen zur Konsultation des Lehrplans heisst es, der Lehrplan 21 würde
die von den Schülerinnen und Schülern zu erwerbenden Kompetenzen «transparent, verständlich
und nachvollziehbar» (S. 12) darstellen. «Aus diesem Grund» [!] würden die
Ziele im Lehrplan 21 «in Form von Kompetenzen beschrieben» (ebd.). (Nebenbei gesagt:
Von ‹Beschreibung› und ‹beschreiben› ist im Lehrplan 21 auffällig häufig die Rede.)
Die Sprache ist verräterisch, denn sie führt auf direktem Weg zum
HarmoS-Projekt. Schon dort – im sogenannten HarmoS-Weissbuch – heisst es in
Bezug auf die Kompetenzen, die durch Bildungsstandards reguliert werden sollen:
Durch «präzise Beschreibungen [!], die sich auf erwartete Leistungen ...
beziehen» (EDK 2004, S. 4), werde es möglich sein, «genau festzulegen, welches
Kompetenzniveau zu einem bestimmten Zeitpunkt der obligatorischen Schule ...
erwartet wird» (ebd., S. 1). Von den Kompetenzmodellen wird gar beansprucht,
diese würden die «Abstufungen und Entwicklungsverläufe
von
Kompetenzen sichtbar
[machen]»(ebd.,
S. 9 – im Original hervorgehoben).
Das ist nicht
nur reichlich übertrieben, sondern schlicht falsch. Kompetenzen kann man weder
sehen noch beschreiben, einfach deshalb nicht, weil sie keine empirischen
Phänomene, sondern hypothetische (theoretische) Konstrukte sind. Was immer
Kompetenzen überhaupt
sein mögen,
sie stehen für Dispositionen, die sich zwar im Verhalten der Schülerinnen
und Schüler zeigen, begrifflich aber nicht mit Verhaltensweisen identisch sind.
Kompetenzen sind nichts, was sich in der Anschauung vorfinden und in Form einer
phänomenalen Beschreibung darstellen lässt. Das ergibt meinen siebten
Kritikpunkt:
Kritik Nr. 7:
Der Lehrplan 21 will uns weismachen, Kompetenzen seien etwas Anschauliches und
liessen sich direkt beschreiben.
Die Fülle an
Kompetenzen, welche der Lehrplan 21 anhäuft, kann folglich nicht damit
begründet
werden, dass es darum geht, «transparent, verständlich und nachvollziehbar » zu
machen, worum es an unserer Schule geht. Es geht um etwas ganz anderes. Der
Lehrplan 21 steht in einem Kontext von Schulreform, der sich mit dem Begriff
der Standardbewegung belegen lässt. Ein Kernstück der Standardbewegung ist der
Anspruch, das Bildungssystem über die Beobachtung seines Outputs zu steuern.
Das impliziert, dass der Output gemessen wird, und zwar auf einem metrischen Niveau, das die Schulen selber
nicht erreichen, weil die Notenskala keine metrische Skala bildet. Es braucht
daher Tests sowie Expertinnen und Experten, welche diese entwickeln, einsetzen und
auswerten. Um Tests entwickeln zu können, bedarf es jedoch der detaillierten und
präzisen Umschreibung dessen, was die Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Diese
Beschreibungen (jetzt handelt es sich um Beschreibungen!) müssen auf der
Verhaltensebene, d.h auf der Ebene der Performanz, liegen. Vergessen wir nicht,
dass Bildungsstandards im HarmoS-Projekt ausschliesslich Leistungsstandards
sind. Im Englischen heissen sie performance standards und nicht etwa competence standards. Damit bin ich bei meinem achten
Kritikpunkt:
Kritik Nr. 8:
Es geht dem Lehrplan 21 gar nicht um Kompetenz, sondern um Performanz.
Es geht darum
zu messen, wozu die Schülerinnen und Schüler fähig sind, und das kann man nur
auf der Ebene der Performanz, d.h. auf der Ebene manifester Leistungen, die sich
im Verhalten der Schülerinnen und Schüler zeigen. Deshalb die Überfülle an sogenannten Kompetenzen
im Lehrplan 21! (Wobei hier ein altbekanntes Problem auftaucht: Trotz Überfülle
an Kann-Formulierungen ist der Lehrplan 21 noch viel zu ungenau, als dass sich
allein auf seiner Basis Tests entwickeln liessen.) Die Folgen sind eine
Übersteuerung der Schule und eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs. Dies
ist mein letzter Kritikpunkt:
Kritik Nr. 9:
Der Lehrplan 21 führt zur Übersteuerung des Bildungssystems und zur
Deprofessionalisierung
des Lehrerberufs.
Eine
Übersteuerung deshalb, weil nicht nur über die Bildungsstandards (den Output),
sondern nun
auch über den Lehrplan (den Input) gesteuert wird. Eigentlich würden
Bildungsstandards
einen schlanken Lehrplan ermöglichen. Ganz einfach deshalb, weil eine Steuerung
über den Output die Inputsteuerung zurücknehmen liesse. So hätte es die
Klieme-Expertise auch vorgesehen. Postuliert werden sogenannte Kerncurricula (vgl.
Klieme et al. 2003, S. 94), welche die traditionelle «Lehrplansteuerung» (ebd.,
S. 91) ersetzen. Doch was uns die EDK beschert, ist das pure Gegenteil: die
Lehrplansteuerung wird nicht zurückgenommen, sondern massiv ausgebaut. Input
und Output der Schule werden gleichermassen gesteuert. Was uns noch fehlt, ist
die Prozesssteuerung (aber dafür werden in Bälde die auf den Lehrplan 21
abgestimmten Lehrmittel sorgen). Eine Deprofessionalisierung des Lehrerberufs
deshalb, weil die Überprüfung der Kompetenzen, da sie ein metrisches
Skalenniveau voraussetzt, nicht von den Lehrkräften selber vorgenommen werden
kann, sondern an Expertinnen und Experten delegiert werden muss. Damit
schliesst sich der Kreis. Es waren Expertinnen und Experten, die den Lehrplan
21
in stiller
Arbeit ausgearbeitet haben, und es werden Expertinnen und Experten sein, die dessen
Umsetzung überwachen und kontrollieren werden. Die Idee eines öffentlichen Schulwesens,
das von den Bürgerinnen und Bürgern gewollt ist und demokratisch kontrolliert wird,
scheint uns genauso abhanden zu kommen wie das Bild eines Lehrerberufs, der nur
professionell ausgeübt werden kann, wenn er nicht nach politischem Belieben an
die Kandare genommen wird.
Literaturverzeichnis
EDK (2004). HarmoS. Zielsetzungen und
Konzeption. Weissbuch. Bern: EDK.
Geschäftsstelle
der deutschsprachigen EDK-Regionen (2010). Grundlagen für den
Lehrplan 21,
verabschiedet von der Plenarversammlung der deutschsprachigen EDKRegionen
am 18. März
2010. Luzern. Download:
http://www.lehrplan.ch/sites/default/files/Grundlagenbericht.pdf
[30.12.2013].
Herzog, W.
(2013). Bildungsstandards
– eine kritische Einführung. Stuttgart: Kohlhammer.
10
Horn, K.-P.,
Kemnitz, H., Marotzki, W. & Sandfuchs, U. (Hrsg.) (2012). Klinkhardt
Lexikon
Erziehungswissenschaft, 3 Bde. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
Klieme, E.,
Avenarius, H., Blum, W., Döbrich, P., Gruber, H., Prenzel, M., Reiss, K.,
Riquarts, K.,
Rost, J., Tenorth, H.-E. & Vollmer, H. J. (2003). Zur Entwicklung nationaler
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Eine Expertise. Bonn:
Bundesministerium für Bildung und Forschung.
Lehrplan 21: Download: http://konsultation.lehrplan.ch/
Weinert, F. E. (2001). Concept of
Competence: A Conceptual Clarification. In D. S.
Rychen & L. H. Salganik (Hrsg.), Defining and Selecting Key
Competences (S. 45-65).
Seattle: Hogrefe & Huber.
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