Wir haben
es zurzeit lustig in unserem Kollegium. Seit wir uns in unseren Fachgruppen mit
dem neuen Lehrplan 21 auseinandergesetzt haben, ist Stimmung angesagt. Kein Tag
vergeht, ohne dass ein Kollege oder eine Kollegin uns einen Satz aus den 557
Seiten des neuen Lehrplans zitiert. Die Reaktion ist meistens dieselbe, es wird
gelacht, Köpfe werden geschüttelt und Schenkel geklopft.
Heute ist
allerdings vielen das Lachen vergangen. Die Nachricht der vom Grossrat
beschlossenen Klassenschliessungen ist ebenfalls in unserem Lehrerzimmer
gelandet. Folgerichtig fragte eine Kollegin, was denn der ganze „Lehrplan-Mist“
gekostet habe. Sechs Millionen Franken! Und der Schulleiter doppelte nach: 22
Tage Schulung für alle Lehrkräfte seien geplant! Ein anderer fügte hinzu, dass
die Einführung von Frühfranzösisch
unseren Kanton insgesamt 60 Millionen Franken kosten werde.
Was anschliessend
in Gang gesetzt wurde, war weniger lustig, vor allem für die Urheber dieser
Quelle bildungsbürokratischer Segnungen. 557 Lehrer protestieren gegen 557
Seiten Praxisferne, monströse Bildungsprosa, apodiktischer
Kompetenzorientierung und das Bestreben, Unterricht auf die Funktionalität
einer Kühlhaubenfabrikation reduzieren zu wollen.
Nach einer
Stunde „Netztätigkeit“ waren die ersten 100 Unterschriften schon beisammen.
Natürlich gab es auch eine mahnende Stimme: Man könne doch nur stoppen, was
laufe, und dieser Unfug werde nie laufen. Der ältere Kollege, aus dessen Munde
diese Worte kamen, gehört zu der Gattung Lehrkräfte, die weder „JA“ noch „NEIN“
sagen. Er sagt meistens „ja, ja…“! oder „Ausser Spesen nichts gewesen“.
Angesichts der
angedrohten Schliessung von Bildungsinstitutionen, kann man hier aber nicht
mehr von Spesen sprechen, sondern von einem gewaltigen Ressourcenklau!
Unser
oberster Bildungschef meinte auf die Ankündigung dieses Protestes: „Es kann
sein, dass der Lehrplan etwas zu engmaschig sei!“ Diesen wunderbaren Satz muss
man sich angesichts der im Lehrplan aufgeführten 4753 Teilkompetenzen einmal auf
der Zunge zergehen lassen.
Entweder
hat Herr Pulver den Impakt dieses monströsen Regelwerks noch nicht begriffen, oder
aber er weiss, worum es geht. Dann ist der Hinweis auf ein bisschen „Viel“ Teil
seiner Durchsetzungsstrategie und er ein gerissener Politiker. Ähnlich
argumentiert übrigens auch seine Exzellenz Zemp, der Präsident des Schweizerischen
Lehrerverbandes, der die fundamentale Kritik „seiner Basis“ gar nicht schön
findet.
Das eingangs
zitierte Lernziel, wonach man über Machtmissbrauch und Machtbegrenzung
nachdenken können soll, mag für Kindergärtner vielleicht etwas hoch gegriffen
sein, aber die Lehrkräfte haben diese Kompetenz offensichtlich nach 9
Sparpaketen und vier monumental gescheiterten Bildungsgrossreformen erworben.
Auf eine dilettantische
Projektentwicklung wie sie beim LP 21 angewendet wurde, auf nicht berechnete bzw.
offengelegte Folgekosten, die nie und nimmer finanziert werden können, auf eine
Kopie des US-amerikanischen Kompetenzmodells, von denen in den USA langsam aber
sicher Abschied genommen wird, kann es nur eine Antwort geben. Eine
fundamentale Ablehnung!
Die
Lehrkräfte haben eigentlich nie richtig eingesehen, weshalb, ein Schulsystem,
das immer noch zu den besten der Welt gehört, dass eine in Europa einmalige
Integrationsleistung erbringt, das an den Lehrlingsweltmeisterschaften
Goldmedaillen nur so abräumt, das die meisten Nobelpreisträger pro Kopf
hervorbringt und dem Lande eine rekordtiefe Jugendarbeitslosigkeit beschert,
plötzlich so immens reformbedürftig sein soll.
Und weshalb
sie sich von Lehrplanflickern, die vermutlich schon bei der Aufgabe, eine Oberstufenklasse
in öffentlichen Verkehrsmitteln auf die Eisbahn zu führen, in Existenzängste
fallen würden, vorschreiben lassen sollen, wie sie unterrichten müssen, haben
sie noch nie richtig akzeptiert. Dafür fehlen ihnen die grundlegenden
Kompetenzen oder sie wissen einfach zuviel.
Kolummne von Alain Pichard, publiziert am 30.11. in der Berner Zeitung