Jeder, der einmal einen Elternbrief verfasst hat, kennt die Tücken der gendermässig korrekten Wortwahl. Ich schreibe seit einiger Zeit wieder "Lehrer" und "Schüler" und verstehe darunter Exemplare beiderlei Geschlechts. Doch die Sprache an den Schulen hat sich längst zu einem Experten-Jargon entwickelt, der auch für Insider nicht immer verständlich ist.
Peter Keller bietet eine Übersicht über gängige pädagogische Begriffe an und erklärt, was sich dahinter verbirgt.
Neu
heissen freche Kinder:
«Herausfordernde Schüler» – Schüler, die im Unterricht eine besondere Zumutung darstellen.
Weil sie ungezogen sind, rücksichtslos, die Mitschüler drangsalieren und einen
vernünftigen Unterricht verunmöglichen. Wer hier die wahren Ursachen verwedelt,
hilft weder dem «herausfordernden Schüler» noch der betroffenen Lehrperson.
«Intervenieren» – Oder wie Akademikerpädagogen es beschreiben: «Kompetenzen,
die für die Durchführung und Entwicklung von einschreitenden Massnahmen in
Bezug auf Personen oder Systeme erforderlich sind.» Etwas weniger bombastisch
ausgedrückt: «Intervenieren» heisst für Ruhe und Disziplin sorgen,
einschreiten, Konflikte lösen.
«Ergebnissicherung»– Der schlichte Vorgang, dass ein Lehrer an der Wandtafel (oder in
einem anderen Medium) die wichtigsten Inhalte seiner Lektion festhält und die
Klasse es ihm gleichtut.
«Input» – Die (viel
zu) seltenen Minuten, in denen der Lehrer seiner Klasse tatsächlich etwas
beibringt. Hiess früher einmal unterrichten, wurde dann als «Frontalunterricht»
schlechtgeredet. Weil Frontalunterricht nach wie vor eine äusserst effektive
Form der Wissensvermittlung darstellt, wird er immer noch in Schulzimmern
praktiziert – allerdings heimlich.
«Fachberater» – Hiess früher einmal Fachinspektor und besuchte regelmässig
Klassen und Lehrpersonen, um von aussen die Qualität des Unterrichts
einzusehen. Da der Begriff «Inspektor» offenbar zu militärisch rüberkam, wurde
er zum Berater weichgespült.
«Fördern» – Unter
«fördern» könnte der gewöhnliche Bürger tatsächlich etwas verstehen, aber wehe,
die Hochschulpädagogen beginnen, Selbstverständlichkeiten zu definieren. In
korrektem Akademikerdeutsch heisst fördern: «Kompetenzen, die für die Diagnose
und die gezielte Förderung von Personen in integrativen oder separativen
Arrangements erforderlich sind.» Aha.
«Heterogenität» bzw. «heterogene Lerngruppe» – Die banale Tatsache, dass in einer Klasse Mädchen und Jungen,
Schweizer und Ausländer, intelligente und weniger intelligente Schüler sitzen.
Bis zu einem gewissen Grad ist diese Vielfalt normal und auch erwünscht. Aber
mittlerweile ist die Sache gekippt: Heterogenität wird von oben verordnet und
bis über die Schmerzgrenzen hinaus künstlich hergestellt. Zum Beispiel durch:
«Inklusion» bzw. «integrative Pädagogik»
– Unter dem vorherrschenden Gleichheitsgebot werden alle Kinder,
auch solche mit Behinderungen, in ein Schulzimmer gepfercht. Zusätzlich werden
«altersdurchmischte» Klassen geschaffen, also mehrere Jahrgänge zusammengelegt.
Was früher in abgelegenen Gemeinden eine Notlösung war, wird mittlerweile
vielerorts in Versuchsklassen bewusst herbeigeführt. Mit «sonderpädagogischen
Massnahmen» wird dann versucht, die Folgen der absichtlich hergestellten
«Heterogenität» wieder abzumildern. Sozialpädagogen, Lernhilfen, Therapeuten
usf. nehmen Kinder mit «besonderem Bildungsbedarf» aus der Klasse oder arbeiten
mit ihnen in angrenzenden offenen Nebenräumen, was wieder für zusätzliche
Unruhe sorgt.
«Selbstorganisiertes Lernen», auch
bekannt als «selbstgesteuertes Lernen» –Kinder
arbeiten selbständig, eigenverantwortlich und in ihrem eigenen Lerntempo.
Dafür stehen «Lernateliers» und «Lernangebote» zur Verfügung. Die Lehrperson
wirkt im Hintergrund als gütiger «Coach», der sich nur bei Bedarf einbringt.
Schöne neue Zuckerwatten-Welt. Dahinter steckt eine perfide Umkehrung des
Prinzips Verantwortung: Kinder sind eben Kinder, weil sie ein gewisses Mass an
Fürsorge und Führung brauchen. Ein strukturierter Unterricht mit klaren Regeln
und Anweisungen (und auch Kontrollen) hilft den meisten Schülern.
«Risikogruppen» – Wieder ein schönes Beispiel aus dem Fundus der Flucht- und Vermeidungssprache.
In der «Risikogruppe» befinden sich in der Regel Kinder mit
Migrationshintergrund (politisch unkorrekt, aber Tatsache) und aus zerrütteten
Familienverhältnissen.
«Klassenmanagement» – Man mag zwar die Manager draussen in der Welt der Wirtschaft
nicht besonders, aber Klassenmanagement tönt halt irgendwie doch cooler als
Klassenführung. Was der Begriff «Klassenmanagement» immerhin offenlegt:
Letztlich läuft erfolgreicher Unterricht darauf hinaus, dass die Lehrperson der
Chef im Unternehmen Klasse ist und sagt, wo’s langgeht. Damit wäre aber auch
klar, wer die Verantwortung für das Unternehmen trägt: nämlich der Chef, also
der Lehrer.
«Situationsadäquat» und
«adressatenspezifisch» – Wörter wie Pfaue. Es
geht schlicht darum, dass sich Menschen angemessen verhalten. Man kaut
schliesslich während einer Beerdigung auch nicht Kaugummi.
«Individualisierter Unterricht» – Der Lehrer soll auf die unterschiedlichen Lerntempi und Niveaus
seiner Schüler eingehen, im besten Fall ein spezielles Unterrichtsmenü für jeden
seiner zwanzig Kunden zubereiten. Das sind unmögliche Forderungen. Mit einem
nahrhaften Tagesteller für alle hat ein Lehrer schon viel erreicht.
Quelle: Weltwoche 15/2013 von Peter Keller