5. Mai 2013

Da drängt sich jemand in den Vordergrund

Er sei ein Starphilosoph. Nun hat er ein neues Buch geschrieben und alle Welt spricht davon (Anna, die Schule und der liebe Gott). Die Rede ist von Richard David Precht. Eine Buchbesprechung von Peter Keller.

Das weisse Hemd handbreit geöffnet, da­runter schimmert die glattrasierte, à point ­gebräunte Brust hervor. Volle Lippen, Augen in Marlene-Dietrich-Blau, die Haarspitzen touchieren zart die Schultern. Das ist nicht «Germany’s Next Topmodel», sondern Deutschlands bekanntester Philosoph, Richard David Precht, Bestsellerautor von «Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?» und TV-Moderator.
Monatlich erklärt Precht im ZDF die Welt im intimen Zwiegespräch. Da geht es um Vegetarismus («Dürfen wir Tiere essen?») oder um Fitnesswahn («Der getunte Mensch»), und zur Anmoderation schaut uns ein besorgter Mann mit Goldglanz im frisch geföhnten Haar entgegen, das Ansteckmikrofon abgestimmt auf den Farbton des Hemdes, und sagt: «Noch nie in der Geschichte haben sich Menschen so sehr mit sich selbst und ihrem Körper beschäftigt wie heute. Wir optimieren unser äusseres Erscheinungsbild, unsere Gesundheit und demnächst vielleicht sogar unsere Gene.»
Da hüpft das Hirn der Annabelle-Leserin, während der TV-Philosoph das Thema gleich noch ins Gesellschaftspolitische stemmt. ­«Passen Selbstoptimierung und Solidarität mit ­anderen zusammen? Oder werden wir immer asozialer?» Bei Richard David Precht ­bekommt das Wort Schönschwätzer eine ganz eigene Note, sein ebenfalls langmähniger Berufs­kollege Peter Sloterdijk hat ihn mit dem Populärgeiger André Rieu verglichen. Was der von Precht verdrängte frühere ZDF-Hausphilosoph damit sagen wollte: Sein Nachfolger ­tänzelt bestenfalls im Walzerschritt durch die Geisteswelt, richtig ernst nehmen kann ihn keiner, der wirklich vom Fach ist. Pflegt hier der gekränkte Sloterdijk seinen Standes­dünkel? Oder ist er einfach ehrlicher als die meisten anderen?
Nun hat der Star-Intellektuelle Richard David Precht ein neues Buch vorgelegt: «Anna, die Schule und der liebe Gott». Darin geht es um eine fundamentale Kritik am (deutschen) Schulsystem, das die Kinder zu «langweiligen Anpassern» dressiere, statt ihre Intelligenz und Kreativität zu fördern. Eine Bildungs­reform genügt ihm nicht mehr. Das Land ­brauche eine «echte Bildungsrevolution», die «unsere Schulen besser, freundlicher, sozial gerechter und effizienter macht». Und wieder braucht sich der Autor um Häme nicht zu ­sorgen. Die Welt nannte das Buch ein «sinn­loses Ärgernis». Der «Lifestyle-Philosoph» (Frankfurter Allgemeine) mit «Belehrungsimpuls» (Spiegel) hatte schon zur Premiere seiner ZDF-Sendung die Bildung und damit sein ­späteres Buch zum Thema gemacht: «Macht Lernen dumm?», fragte er sich und den Hirnforscher Gerald Hüther. Die weitgehend kon­troversfreie Diskussion der beiden Schulkritiker ­veranlasste die Zeit zur knappestmöglichen Antwort: Nein, «Precht macht dumm».
Immer wenn das Feuilleton so einmütig zur Verdammnis schreitet, ist zumindest Vorsicht geboten, zumal für Richard David Precht sein eindrücklicher Erfolg spricht: Auch das neue Buch ist schon nach wenigen Verkaufstagen in die Top Ten der Bestenliste vorgestossen. Bildung beschäftigt. Geschrieben hat Precht die Streitschrift, wie er einleitend festhält, für Lehrer, Schüler, Eltern und «nicht zuletzt für Bildungspolitiker». Dabei möchte er «alte Freund-Feind-Linien» überwinden, «Mut zum Träumen» geben und nebenbei die Welt oder wenigstens Deutschland verändern: «Ich möchte zeigen, dass eine neue Form der ­Bildung und des Bildungssystems ohne ­Zweifel zugleich eine andere Gesellschaft ­erzeugen wird.»
Wie so oft, wenn Intellektuelle die Gesellschaft verändern wollen, reiten sie zuerst eine At­tacke gegen die bestehende Ordnung. In diesem Fall gegen das «althergebrachte Klassenzimmer-Modell». Die historischen Gründe, schreibt Precht, «die den Frontalunterricht, die Fünfundvierzig-Minuten-Taktung, das Unterrichten nach Jahrgängen und die Notwendigkeiten von Zensuren, Klausuren und Hausarbeiten einmal auf den Plan gebracht haben, sind eben dies: historisch». Aus einer Zeit stammend, in der fleissige Indus­triearbeiter gebraucht wurden, die sich brav dem Takt der Maschinen unterzuordnen hatten. Mit dem 19.Jahrhundert habe unsere Gegenwart jedoch nichts mehr zu tun, meint Precht – was ihn nicht hindert, im folgenden Kapitel ausgiebig über Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Mitgründer der Berliner Universität, und dessen Bildungsideal zu schwadronieren. Auch sonst geizt der Honorarprofessor für Philosophie und Ästhetik nicht mit historischen Analogien. Offenbar nimmt nicht einmal Precht Prechts Thesen ernst.
Doch was überhaupt ist Bildung? Der Autor wehrt sich gegen die Gleichstellung von ­Bildung und Wissen, bloss um sich vom Un­gebildeten unterscheiden zu können oder bei Günther Jauchs «Wer wird Millionär?» zu reüssieren. Er trifft einen empfindlichen Punkt, wenn im Buch die sinnlose Faktenschinderei an den Schulen kritisiert wird. Unterricht als Durchlauferhitzer, wo Kinder zeitgenau für eine Prüfung wiederkäuen müssen, was ihnen zuvor eingetrichtert wurde. Schulwissen, das gleich wieder verdämmern wird. Oder wie war das schon wieder im Französischen mit dem futur simple und dem subjonctif? Oder wer könnte noch freihändig eine Differenzialgleichung anwenden? Auf höchstens fünf Prozent wird das Restwissen beziffert, das die aktive Schulzeit überdauert. Mehr wird allerdings auch nach der Lektüre von «Anna, die Schule und der liebe Gott» nicht hängenbleiben.
Die Frage steht immer noch im Raum: Was ist Bildung? Precht fällt es eindeutig leichter, zu definieren, was Bildung nicht ist: «Wer in Gesellschaft Goethe zitiert, macht zwar von seinem Gedächtnis Gebrauch, verrät aber noch nicht zwingend Bildung.» Nachdem sich der TV-Philosoph im ersten Kapitel ausgiebig über «Bildungsspiesser» und «Bildungshu­berei» ausgelassen hat, macht er sich umgehend daran, auf den nächsten dreihundert ­Seiten seinen inneren Bildungshuber von der Leine zu lassen.
Kaum ein Abschnitt ohne Verweis auf eine Autorität aus Forschung und Wissenschaft: Da werden der US-amerikanische Ökonom Jeremy Rifkin und sein Buch «Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft» zitiert (S.176), darauf der Nobelpreisträger Robert Merton Solow (S.177), dann eine Untersuchung des Politologen Robert E. Lane (S.178) über die Selbstregulationskraft der modernen Wissensgesellschaft, und schon geht es weiter über den Sozialphilo­sophen André Gorz zum Soziologen Robert K.Merton und dessen «Wissenskommunismus» (S.179). Nach einer kleinen Verschnaufpause bei den Gebrüdern Humboldt und bei Hegel (S.180) jagt Precht wieder durch die akademische Buchstabenwelt eines Peter F.Drucker und Matthias Horx (S.181), und so geht es Seite um Seite, Kapitel um Kapitel. Insofern kann man das Buch pädagogisch wertvoll ­nennen: Ungefähr so müssen sich Schüler im Klassenzimmer vorkommen, wenn sie von Fach zu Fach stolpern und mit «Stoff» zugeballert werden.
Der zweite Teil des Buches widmet sich dann der eigentlichen «Bildungsrevolution» – wobei die prechtsche Revolution deutsch und gründlich als «10 Prinzipien» daherkommt. Und schon geht’s los im Gleichschritt: Zunächst dürfe «die intrinsische Motivation des Kindes» nicht zerstört, sondern sie müsse ­gepflegt werden. Die Kleinen können ihren ­eigenen Interessen folgen und dürfen sich ­dabei «auch mal langweilen».
Dann soll man die Schüler «individuell lernen lassen» (Prinzip 2) und ihnen weniger Stoff verfüttern, vielmehr «das Verstehen von Sinn und Sinnlichkeit der Dinge und der ­Zusammenhänge» fördern (Prinzip 3). Die nächsten drei Punkte befassen sich mit der ­Herausbildung einer Schulgemeinschaft, in der Kinder Freundschaften schliessen und ein Zugehörigkeitsgefühl entwickeln können, Lehrer und Schulleitung eine «Beziehungs- und Verantwortungskultur» schaffen, «Werte und Wertschätzung» pflegen und aus jedem «Lernhaus» (Precht-Deutsch für Schulhaus) eine besondere Bildungseinrichtung machen. Prinzip 7 ist wieder handfester: Eine «lernfreundliche Schularchitektur» mit einem Campus als Mittelpunkt soll für «ein Netzwerk an architektonischen Beziehungen» ­sorgen.
In diesem Umfeld sollen die Schüler ihre «Konzentrationsfähigkeit trainieren» (Prinzip 8). Kinder würden von Reizen überflutet und überfordert. Je mehr die Elternhäuser hier versagten, «umso wichtiger wird die Aufgabe der Schule, für Konzentration und Stille zu sorgen». Da mag Precht nicht unrecht haben. Gleichzeitig aber will er die Jahrgangsklassen abschaffen, eine offene Lernarchitektur, Teamunterricht, individuelles Lernen und eine «integrative Schule», die das fremdsprachige Zuwandererkind mit dem Wohlstandslümmel in Ganztagesschulen (Prinzip 10) ohne persönliche Leistungsnoten (Prinzip 9) zusammenpfercht. Ob mit dieser Mischung die Schule zur Ruhe findet und die Kinder darin ihre Konzentrationsfähigkeit entdecken?
Man kann es auch so sagen: Richard David Precht will die unmögliche Schule – und seine «Bildungsrevolution» entpuppt sich als wiederaufgekochtes Reformsüppchen aus sozialdemokratischer Küche: gleiches System für ­alle, alle für das gleiche System. Bis zuletzt gibt Precht den antibürgerlichen Bildungsbürger, beklagt die «Kleinstaaterei» in der deutschen Bildungspolitik und erinnert zum Schluss nochmals an Wilhelm Humboldt, der eben auch «nicht nur bilden, sondern Staatsbürger bilden wollte». Man kennt die alte deutsche Sehnsucht: Wieder einmal soll es die preus­sische Pille aus starkem Staat und uniformer Gesellschaft richten. Unbeabsichtigte Nebenwirkungen (DDR und Drittes Reich lassen ­grüssen) nicht ausgeschlossen.
Quelle: Weltwoche, 18/2013 von Peter Keller

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